Warum die Backstreet Boys ein Relikt aus den Neunzigern sind, 20 Jahre später noch immer Erfolg haben und meine Frau trotzdem peinlich berührt lächelt, wenn ich „Drowning“ laut aufdrehe und romantisch die Fäuste balle.
Meine Frau hat mich erwischt. Nein, nicht beim Fremdgehen, Masturbieren oder Flachmann trinken. Sondern dabei, wie ich leidenschaftlich die Backstreet Boys höre und ihnen bei ihrer eigenen Inszenierung von Leidenschaft zusehe.
Gut, ein Geheimnis daraus hatte ich genau so wenig gemacht wie für mein grundsätzliches 90s-Faible. War halt die Dekade, in der ich als Neun- bis Neunzehnjähriger zwischen Bravo-Hits und Dorfdiscos maßgeblich sozialisiert wurde, menschlich und musikalisch. Ich sitze also auf der Couch, drehe den Ton des unten stehenden Videos auf 11 und warte, bis Ines die Szenerie betritt. „Warte mal“, sagt sie sodann in einem Tonfall und mit einem Gesichtsausdruck zwischen Belustigung und Fremdscham und bittet: „Stell Dir kurz vor, was Du von einem Dir unbekannten Paar halten würdest, von dem Du hörst, dass er sich am Vorabend auf dem Klo Pearl Jam und Sonntagmittag ihm Wohnzimmer die Backstreet Boys reinzieht…“. „Ich würde IHN für einen Ü-30-Musikfan ohne Tunnelblick halten – und das Paar bestimmt für sehr cool und unterhaltsam!“, entgegne ich. Meine Lobpreisung für diesen Song hier ignoriert sie höflich, in dem sie lächelnd nickt und den Raum verlässt.
Meine neu entdeckte Schwärmerei für meine Jugendfreunde Brian, AJ, Nick, Kevin und Howie basiert teilweise auf meiner eigenen Unkenntnis: Das Video zum Song „Drowning“ wird auf YouTube mit dem Datum 6. April 2011 gelistet. Weil ich die BSB-Karriere seit der Jahrtausendwende nicht mehr verfolgte, glaube ich fälschlicherweise, Ton und Bild seien in jenem Jahr erschienen. Ich staune lautstark darüber, wie die fünf ja eigentlich gar nicht mehr soo jungen Jungs es schaffen, noch immer fast wie früher auszusehen. Mehr aber noch darüber, wie sie es schaffen, über eine Dekade nach ihren Heydays immer noch so starke Hits geschrieben zu kriegen und sie entsprechend performen: die schnulzigen Liebeslyrics, die geballten Fäuste, die verträumten Blicke gen Horizont und Boden, die schwenkenden Armbewegungen, die Tanzschritte, AJs Bridge und sein Background-Ausbruch im Ohrwurm-Refrain, der fette Sound und die Klangfarbe, die das Teil sofort in die A-Rotation jedes Dudelfunksenders dieses Landes hievte – das Beste aus dem Jahr 1999 in vier Minuten und 32 Sekunden!
Jetzt sitze ich hier, scrolle durch die BSB-Diskografie und lerne, dass „Drowning“ bereits 2001 auf einem Best-Of-Album erschien und noch früher fertig war, auf ihrem vierten Album BLACK & BLUE aber wegen der bereits unfassbaren Hitdichte (warum sonst?) keinen Platz fand. Meinem Respekt für die Karriere tut das nur wenig Abbruch: YouTube spielt mir spätere Singles von ihnen vor, die zwar nicht mehr ganz so große Hits wie „Drowning“ oder gar dessen Vorgänger aus den 90ern sind, es aber immer noch auf etliche Millionen Views und Kommentare bringen und von Alben stammen, die auf eine immer noch menschlich und kommerziell funktionierende Boyband schließen lassen: Ihr aktuelles, neuntes Album DNA schaffte es Anfang 2019 in Deutschland immer noch auf Platz 2, in den USA auf Platz 1 der Charts. Mit lächerlich wenigen verkauften Einheiten im Vergleich zu ihren Millionensellern vor 20 Jahren. Aber das geht ja allen so.
Die Songs sind in Wahrheit natürlich völlig egal, die Texte austauschbar, die Videos eine Aneinanderreihung von No-Go-Klischees aus dem 80s- und 90s-Repertoire (brennende Autos, weiße Flügel in der Wüste, Windmaschinen), der Sound seit den Zehner Jahren kontemporärer produziert (ganz schlimm etwa die Nummer mit Steve Aoki) und auf eine jüngere Zielgruppe getrimmt – aber sie sind leider immer noch besser als die C-Ware, die die einstigen Genre-Pioniere New Kids On The Block so zugeschoben kriegen. Fragt sich, wer von den gemeinsamen Touren beider Bands unter dem Namen NKOTBSB abgesehen von den Fans von früher mehr profitierte. Eigentlich egal: Sie stehen auf Platz 1 und 2 der „best-selling boybands of all time“ – Take That hingegen nur auf Platz 10.
Meine Frau wird dieser Nostalgie-Nummer vermutlich trotzdem nichts abgewinnen können. Ich kann sie sogar verstehen.
An welche Songs sich wohl unsere Jungs in 30 Jahren nostalgisch erinnern?
Die 5 besten Songs der Backstreet Boys:
1. „All I Have To Give“
2. „Quit Playing Games With My Heart“
3. „Get Down“ (feat. fucking Toni Cottura!)
4. „Drowning“
5. „Shape Of My Heart“
Ganz schlimm hingegen übrigens „Everybody“, das lief echt auf jeder beschissenen Scheunenfete zwischen Kerken-Nieukerk und Kevelaer. Hach, ich könnte noch weiter schauderschwärmen über Poposcheitel, Baggypants, das Label Booya Music und andere Boybands, zum Beispiel. Aber das spare ich mir lieber für meinen 90s-Podcast auf, den ich gerade mit einem guten Kollegen vom „Musikexpress“ plane. Get down, get down, and move it all around!
(Diesen spontanen Text veröffentlichte ich zuerst auf meinem Facebookprofil und wollte ihn danach auf meinem #nkatb-Instagram raushauen. Ist dafür aber zu lang.)