Warum ein Coming-out in heterosexuellen Beziehungen noch immer ein Problem ist

Ist es etwas anderes, wenn ein Mann seine Partnerin für einen anderen Mann verlässt? Oder eine Frau ihren Partner für eine andere? Wenn dabei Kinder im Spiel sind? Und wieso eigentlich? Drei Menschen über die vielleicht wichtigste Veränderung ihres bisherigen Lebens sowie deren Folgen.

Dass Carsten Dobberkau heute glücklich mit einem Pfarrer verheiratet ist und sie gemeinsam in seiner Heimat in der Altmark leben, war für ihn über Jahrzehnte hinweg undenkbar. Der 57-Jährige ist schwul. Das weiß er, seit er 13 ist. Niemand sonst sollte jemals davon erfahren. Dass seine heutige Ex-Frau und Mutter seiner Kinder, ihre Familien und ihr Umfeld es schließlich doch taten – 22 Jahre lang hatte Carsten niemandem etwas gesagt – hat sein Leben gerettet: Nur Wochen vor seinem Coming-out sah Carsten sich eher tot, als diesen Schritt zu gehen.

Seit 2003 zusammen, seit 2014 verheiratet: Carsten Dobberkau (rechts im Bild) und sein Mann (Foto: privat)

Dobberkau wuchs in einem Dorf in Sachsen-Anhalt auf. Weil seine Eltern ihm und seinen drei Geschwistern stets alle Freiheiten ließen, ihnen nur das Beste bieten wollten, fühlte er sich von kleinauf in ihrer Schuld. Es gab nie Konflikte, es sollte niemals welche geben. Nachdem Carsten als Teenager selbst ohne jede körperliche Erfahrung zu spüren begann, dass er auf das männliche Geschlecht steht und mit diesem Geheimnis erwachsen wurde, war für ihn klar, dass er ein asexuelles Leben führen würde. Allein, mit viel Sport, Hobbys, Arbeit und Ablenkung. Ging sogar zur Armee und wurde dort Ausbilder. Bis eine Frau seinen Plan durchkreuzte: Nachdem seine beste Freundin, die er im Veterinärmedizin-Studium in Berlin kennenlernte, sich von ihrem Verlobten trennte, schlug sie Carsten vor, zu heiraten. Er hatte nichts dagegen. Vielleicht würde es ja klappen, dieses Leben, von dem er glaubte, dass alle es von ihm erwarteten. Und es klappte. Sie kauften ein Haus auf dem Dorf, brachten zwei Jahre nach der Hochzeit 1997 Zwillinge zur Welt. „Ich war bis 29 Jungfrau“, sagt Carsten heute, um zu erklären: Weil er nie Körperlichkeit erlebte, funktionierte sie auch mit einer Frau.

Alles schien nach außen hin perfekt – bis Carsten psychosomatisch krank wurde. Er verlor Gewicht, litt unter Schlaflosigkeit. Niemals hatte er bis dahin auch nur einer Person sein Geheimnis anvertraut, selbst nicht seiner anderen besten Freundin, die ihm am Abend vor seiner Hochzeit gestand, dass sie lesbisch sei. Das wäre seine Chance gewesen, aber sie kam bereits zu spät. „Irgendwas stimmt nicht mit dir“, stellte auch seine Frau fest, bevor sie mit den Kindern drei Wochen auf Kur fuhr. „Nach deiner Rückkehr sag ich es dir“, versprach Carsten – und sich selbst, sich innerhalb dieser Zeit das Leben zu nehmen. Eher das, als die Fassade zu zerstören und damit womöglich das Leben seiner Frau und seiner Kinder. Als ob er dies mit seinem Tod nicht getan hätte.

Angst vor Ablehnung

„Die größte und menschlichste Angst ist in der Regel die vor sozialem Ausschluss“, erklärt Meike Kania-Mentzel. Die studierte Diplom-Psychologin arbeitet als niedergelassene psychologische Psychotherapeutin in Berlin und weiß: Um dazuzugehören und nicht aus der vermeintlichen Norm zu fallen, machen Menschen absurde Dinge. Sie heiraten zum Beispiel eine Frau, obwohl sie sich zu Männern hingezogen fühlen. Dabei war Carsten lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort: „Wer in einem konservativen Umfeld ohne Internet aufwuchs, hatte keine Berührungspunkte mit der Welt da draußen“, sagt sie. In ihrer Praxis hat sie viel Kontakt mit jungen queeren Menschen. Die hätten auf der Straße oder auf YouTube jemanden gesehen, der so ist wie sie, gegoogelt und bald herausgefunden, dass es auch andere queere Personen gibt, sogar Promis. Indes gilt: Wer auf einem katholischen Internat groß wurde, kann sich selbst als heute 20-jährige Person mit der eigenen Sexualität schwertun.

Carstens Verhalten war demnach zwar nicht gesund, aber psychologisch nachvollziehbar. Er befürchtete, verstoßen zu werden. Als Glück im Unglück stellte sich Anfang der Nuller auch für ihn das Internet heraus. Als seine Frau auf Kur war, traf er in anonymen Chatrooms erstmals auf Männer, denen es ähnlich ging wie ihm. Einer redete ihm seinen geplanten Suizid aus. Carsten ahnte zunehmend, dass der Tellerrand nicht hinter dem Schild des Ortes endet, den er als Familienmensch nie endgültig verlassen wollte und würde – und gestand seiner Frau seine wahre sexuelle Orientierung. „Ich liebe dich, aber wir können nicht mehr zusammen sein“, sagte er. Für beide brach ihre bisherige Welt zusammen. Danach überließ er die Koordination der weiteren Schritte bewusst ihr. So sehr sie die Kontrolle über ihr bisheriges Leben verlor, so sehr wollte er ihr diese zurückgeben.

Ein Coming-out wie in einem Fernsehfilm

Dass eine Trennung wegen einer sexuellen Umorientierung noch immer anders wiegt, bestätigt Sonja Bröning, Professorin für Entwicklungspsychologie an der MSH Medical School Hamburg, Paar-, Familien- und Sexualtherapeutin sowie Trennungs- und Scheidungsmediatorin: „Auf die Tatsache, dass gleichgeschlechtliches Begehren im Spiel ist, reagiert kein Umfeld komplett neutral. Oft wird es anfangs nicht so ernst genommen, ‚ist nur eine Phase‘, heißt es dann. Eltern könnten sagen: Das kannst du dir nicht bieten lassen! Ein Mann zum Beispiel schämt sich dann dafür, dass seine Frau jetzt lesbisch ist. Dazu kommt: Wer ein so zentrales Merkmal verändert, wird einem vielleicht fremd. Wer bist du immer gewesen? War das alles gelogen?“

Gleichzeitig gilt laut Psychologin Mentzel ganz grundsätzlich, was viele Menschen nach einer Trennung schon mal erfahren haben dürften: „Für die verlassene Person ist es oft leichter, die Trennung zu akzeptieren, wenn es eine neue Person auf der anderen Seite gibt. Die Hoffnung, dass es doch noch was wird, ist dann nicht mehr so groß.“ 

Der weitere Verlauf von Carstens Geschichte liest sich wie ein Drehbuch einer ZDF-Dramedy mit Devid Striesow in der Hauptrolle: Sie wuppten die Trennung gemeinsam. Sagten es ihren Geschwistern. Dem Freundeskreis. Den Kita-Erzieherinnen. Dem Kegelclub, dessen Mitglieder seitdem jeden anderen Kegelbruder anderer Clubs zurechtwiesen, falls mal wieder ein homophober Witz fiel. Den Kund:innen der Tierarztpraxis, von denen einige Landwirte durchaus maulten: „Die schwule Sau kommt mir nicht in meinen Kuhstall“. Und den Eltern, die es nicht leicht-, aber notgedrungen hinnahmen. Sein Vater hatte Angst um den Familienbetrieb, den Carsten bis heute führt: „Für ihn war es ein absolutes No-Go, dass sein Sohn plötzlich schwul ist. Sie wollten mich zwischenzeitlich sogar in eine Art Therapie schicken, und wäre ich nicht 35 gewesen, sondern 15, hätten sie es vielleicht gemacht.“

Carsten traf andere Männer und führte die eine oder andere Beziehung. Sein bis dahin nie körperlich oder sonst wie zwischenmenschlich erlebtes Schwulsein gefiel ihm auch praktisch. Seinen heutigen Ehemann lernte er durch eine Verkupplungsaktion kennen: Ihm gefiel der offen homosexuelle evangelische Pfarrer, neu in der Nachbargemeinde, auf der Beerdigung der Mutter seiner lesbischen Freundin, die die gegenseitigen Funken auch bemerkte und beide zum Kaffee einlud. Der Pfarrer hatte damals noch einen anderen Freund, stand aber eines Tages bei Carsten vor der Tür, er habe sich für ihn entschieden. Sie heirateten standesamtlich in ihrem Landkreis und mit einer Zeremonie am See Genezareth in Israel, und hier würde der Fernsehfilm zum Finale hin besonders unglaubwürdig werden. Die mit ihnen im Bus Reisenden, vor deren Konservatismus sie Angst hatten, entpuppten sich als bunter Haufen: „Am Ende waren wir die ‚Normalsten‘“, erinnert sich Carsten und lacht, wie er so oft lacht, wenn er seine Geschichte erzählt. „Mit uns feierte zum Beispiel ein Ehepaar, zwei Frauen mit 40 Jahren Altersunterschied, von dem wir dachten, es wären Mutter und Tochter oder gar Großmutter und Enkelin. Und zwei Frauen, Eltern von vier Kindern, die 30 Jahre als Mann und Frau und danach zehn Jahre nach eine Geschlechtsumwandlung als Frau und Frau verheiratet waren. Es war ganz wunderbar.“

Abspann.

„Es ging mir um die Person, nicht um ihr Geschlecht“

Bei Felix aus Bern (Name und persönliche Details von der Redaktion geändert) war es anders. 14 Jahre lang waren er und seine Jugendfreundin aus einer baden-württembergischen Kleinstadt ein glückliches Paar. Seine Heterosexualität hatte er nie infrage gestellt. Eines Tages besuchte er einen gemeinsamen Freund in Mailand. Sie verstanden sich gut. Sehr gut. So gut, dass sie sich eines Abends beim Feiern küssten.

Das war vor drei Jahren, Felix damals 31. Er erzählte seiner Freundin davon. Sie habe die komplette Beziehung hinterfragt und befürchtet, dass er sich wegen seiner Erziehung und dem Umfeld bis dahin nicht getraut hatte, seine Sexualität offen auszuleben. „So war es aber nicht“, beteuert Felix. Die beiden sprachen lange und viel darüber, entschieden sich für eine offene Beziehung, damit er sich austoben könne. Felix jedoch spürte: Es ging ihm nicht um das Geschlecht per se. Eigentlich möchte er lieber mit diesem Mann zusammen sein – bei aller anhaltenden Liebe für seine Freundin. „Wäre es eine andere Frau gewesen, hätte sie sich vergleichen müssen. So aber, dachte sie, hatte sie direkt verloren, weil sie mir unmöglich das gleiche wie ein Mann geben könne.“ Sie trennten sich, blieben in Kontakt, weinten auch Monate später noch gemeinsam. Mittlerweile ist er seit zwei Jahren Single, zufrieden mit sich selbst und versteht sich als bisexuell, Genderfluidität sei in seinem Umfeld ohnehin kein Thema mehr. Seine Ex und er sind heute beste Freund:innen.

Apropos vergleichen: Könnte es nicht auch helfen, wenn die Trennung für ein anderes Geschlecht erfolgt? Weil so kein eigentlich unnötiges Rivalitätsdenken entsteht? Es kann einerseits ein erleichternder Faktor sein, räumt Psychologin Kania-Mentzel ein. Bestimmte Beziehungsprobleme ließen sich etwa subjektiv damit erklären, dass das Geschlecht einfach nicht das passende gewesen sei. Andererseits hat sie ein politisches Problem mit der Einstellung, um jemanden zu kämpfen. „Eine derart patriarchale Sozialisierung herrscht in ganz vielen Köpfen vor“, weiß sie, „der Gedanke geht aber von einer Binarität der Geschlechter aus, die nicht zutrifft, und er stilisiert die Beziehung zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘, ‚Mann‘ und ‚Mann‘ oder ‚Frau und Frau‘ hoch. Es gibt viele Geschlechter jenseits von ‚Mann‘ und ‚Frau‘, die dann weniger wert wären.“ Denn, und das ist natürlich leichter gesagt als gedacht und gefühlt: „Am Ende geht es um den Menschen, den man verliert. Und nicht um das Geschlecht der neuen Partnerperson.“ 

„Über Nacht“ nahm eine Frau seinen Platz ein

Genau so gut, wie es im Falle von Carsten und Felix die Männer waren, die ihre Partner:innen für ein anderes Geschlecht verließen, können es auch die Frauen sein. So war es bei Nils (Name und Details ebenfalls geändert). Auch er lebte nach außen hin ein perfektes Leben: Gut bezahlter Marketingjob mit Führungsverantwortung in Berlin, sie selbstständige Marketing-Managerin, verheiratet seit acht Jahren, zwei Kinder, große Neubaumietwohnung in Prenzlauer Berg. Doch irgendwann stießen die beiden nach zwei Kindern und immer mehr Alltag statt Zweisamkeit an ihre Grenzen. Sie machten eine Paartherapie, ohne Erfolg. Kurz nach Ende der Sitzungen, erfährt der 42-Jährige den Grund dafür. Seine Frau ist lesbisch, sie wünscht sich die Trennung. „Ein Jahr zuvor wollten wir noch ein Haus kaufen und ein richtiges Familiennest gründen“, sagt Nils und schüttelt ungläubig den Kopf. Auch er verstand seine doch nicht so heile Welt nicht mehr. „Ob das zweite Kind jemals eine Aussicht auf eine intakte Familie hatte?“, fragt er sich und erkennt seine Frau seit ihrem Coming-out nicht mehr wieder. Dass „über Nacht“ eine andere Frau seinen Platz eingenommen hat, hat er akzeptiert, aber noch immer nicht verstanden. oder gar verarbeitet.

Aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes wohnten sie noch ein halbes Jahr unter einem Dach. Dann zog erst sie, später er aus. Ein Verbleib war finanziell und auch emotional nicht möglich. Ob er sich Hilfe gesucht hat? Mit Freunden, die ebenfalls Trennungen hinter sich haben, hat er beim Bier darüber gequatscht, auf einen Psychotherapie-Platz wartet er bis heute. Die noch laufende Eltern-Beratung ist aktuell der einzige Ort, bei dem sich beide austauschen. Nach den zehn Terminen müssen sie sich alleine arrangieren. Nils graut es schon.

„Heimlichkeit und Scham sind innerlich Nachbarn“

Was, wenn ich mich keinem Freund, keiner Freundin, keinem Familienmitglied öffnen will oder kann, aber Redebedarf erkenne? Und, wie Nils, kurz- und mittelfristig keinen Therapieplatz finde? Viele Therapeut:innen, sagt Prof. Bröning, haben mit dem Thema Queerness ohnehin noch immer relativ wenige Berührungspunkte. Ihre Empfehlung lautet deshalb, sich vor Ort oder online an eine Einrichtung zu wenden, die mit LGBTQIA+-Menschen arbeitet. Die können helfen, spezielle Erfahrungen zu verarbeiten und weitere Unterstützung zu finden. Beratende, die das Thema Diversität im Blick haben, zum Beispiel also erkennen können, dass mit gleichgeschlechtlichem Begehren auch Themen wie Identitätssuche und Sehnsucht nach authentischem Leben verbunden sind. Die wissen, dass Angst vor Ablehnung, Stigmatisierung und Stress im Umfeld damit einher gehen kann und dass Diskriminierung gegenüber queeren Menschen auch heute immer noch weit verbreitet ist. Die an ihren eigenen Vorurteilen – häufige Vorurteile seien etwa „Bisexuelle können eben nicht treu sein“, „Bisexuelle können sich einfach nicht entscheiden“ oder „Bisexuelle können sich ja aussuchen, wen sie lieben, „Homosexualität zerstört Ehen“ und dergleichen – gearbeitet haben. Und die einen sicheren Raum schaffen, über die Besonderheit des Verlassens für eine:n gleichgeschlechtliche:n Partner:in zu sprechen, ohne dass jedes Problem darauf zurückgeführt wird, nach dem Motto „dann konnte das ja nichts werden“. „Das Bedürfnis der Klient:innen nach Thematisierung oder Nicht-Thematisierung dieser Aspekte sollte dabei das Tempo und das Ausmaß vorgeben“, so Bröning. Genau so wichtig sei es, sich selber Zeit zu geben. Niemand muss gleich allen alles erzählen. „Nur eine Geheimhaltung ist für die Psyche immer schwierig“, weiß Bröning. „Man zahlt einen Preis. Heimlichkeit und Scham sind innerlich Nachbarn.“

Carsten Dobberkau verheimlicht gar nichts mehr. Er lebt und praktiziert weiterhin in dem Dorf, von dem er als junger Erwachsener Angst hatte, dass er sich dort nie mehr blicken lassen dürfe. Seine Ex zog zurück zu ihrer Familie nach Mecklenburg-Vorpommern, die Kinder studieren in Rostock. Gemeinsam mit seinem Mann pflegt er seine 90-jährige Mutter, die bei ihnen lebt. „Heute bin ich mit mir im Reinen“, sagt er, „obwohl ich die Last, meiner Ex-Frau geschadet zu haben, ein Leben lang auf meinen Schultern spüren werde.“

Denn das, so Carsten, sei der einzige Vorwurf gewesen, den er nach der Trennung langfristig von ihr hörte. Dass er sie geheiratet und sich selbst versteckt habe.

+++ Eine gekürzte, redigierte und entsprechend umgestellte Version dieses Textes ist am 7. April 2024 auf Tagesspiegel.de erschienen. +++

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