„Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch“

Caroline von St. Ange ist Nachhilfelehrerin, Lerncoach, Beraterin, Buchautorin und selbst ernannte „Sinnfluencerin“ – und seit Beginn der Coronapandemie und damit verbundenen Schulschließungen von verzweifelten Eltern hochgradig gefragt. Ein „Tagesspiegel“-Gespräch über Hausaufgaben, Mindsets und gravierende Fehler im Schulsystem und unserem Denken.

Caroline von St. Ange, Autorin des Buches „Alles ist schwer, bevor es leicht ist“ (Foto: Rowohlt / Paula Winkler)

Frau von St. Ange, auf Instagram folgen Ihnen aktuell über 231.000 User. Ihren dortigen Durchbruch verdanken Sie den Lockdowns während der Coronapandemie. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Während des Homeschoolings fanden wir eine eigentlich fantastische Situation vor. Plötzlich wurde Eltern klar: Es ist doch nicht so einfach, einem Kind etwas beizubringen! Es gab das Klischee über Lehrer: „Vormittags haben sie recht, nachmittags haben sie frei“. Die Wahrheit ist eine andere. Nicht jedes Kind setzt sich auf Bitten hin und lernt Vokabeln. Eltern bekamen Respekt vor Menschen, die das täglich mit 30 Kindern versuchen. Gleichzeitig erkannten sie die Lücke, die durch monatelange Schulschließungen entstand. Sie wurden ahnungslose Hilfslehrkräfte – und waren entsprechend dankbar über meine auf Instagram geteilten Ideen, wie man Kinder inhaltlich motivieren und ihnen dabei ein Funkeln in den Augen bescheren kann. Das Problem war, dass die Schulen selbst den Eltern solche Hilfen nicht an die Hand gaben. 

Warum nicht?

Es fehlte unter anderem an digitaler Ausstattung und an gemeinsamen Lösungen, die zum Beispiel am Datenschutz scheiterten. Jedes Bundesland plante eigene digitale Plattformen, für die jeweils viel Geld ausgegeben wurde und die in der Realität unzureichend funktionierten. Jetzt wird es durch den massiven Lehrermangel völlig wild. Fachfremde Lehrer unterrichten. Den Kindern tut dies nicht gut. Viele Methoden entsprechen keinem zeitgemäßen Erziehungsstil oder dem Wissen, das wir über gutes Lernen haben. 

Wer Ihrem Kanal folgt oder Ihr Buch liest, erlebt zahlreiche Aha-Momente. Sie erklären etwa, warum Noten kontraproduktiv sind, wir nicht das Falsche, sondern das Richtige benennen sollen und Stärken stärken statt Schwächen zu bekämpfen. Wir motivieren Kinder beim Laufen lernen auch nach dem zehnten Sturz, während wir bei Matheaufgaben nach dem dritten Versuch die Augen rollen, weil das Kind den Rechenweg noch immer nicht kapiert. Warum fallen Eltern oft nach fünf Minuten in alte Muster zurück?

Man kommt nur schwer über die eigene kindliche Prägung und die Schulerfahrungen hinweg. Wir alle durchliefen das System. Die Sätze, die wir sagen, wenn wir uns ärgern, sitzen tief: „Bist Du doof? Das ist doch total einfach!“ Es braucht pädagogische Weitsicht. Nur weil jemand heute etwas nicht versteht, heißt das nicht, dass es nicht morgen oder nächste Woche anders werden kann. Vor 30 Jahren identifizierten sich Eltern noch nicht derart mit ihren Kindern und deren Förderung. Wenn Kinder heute scheitern, fühlt sich das noch mehr wie ein eigenes Scheitern an: Habe ich es nicht genug gefördert? Haben wir zu wenig vorgelesen? Habe ich ihn zu viel fernsehen lassen? Habe ich sie auf die falsche Schule geschickt? Habe ich es schlecht erzogen? 

Sorgende Eltern: Für die Kinder eine eigentliche gute Entwicklung, oder?

Ich wünsche mir, dass Eltern und deren Kinder ein sogenanntes „Growth Mindset“ entwickeln, also die Überzeugung, dass wir bis ins hohe Alter lernen und uns immer weiter entwickeln können. Unser Gehirn kann das. Es gibt keine Sackgasse und keine Stoppschilder. Manches braucht lediglich mehr Zeit und Übung und bessere Strategien. Ich kann ins Vertrauen gehen, dass mein Kind das lernen wird. Gleichzeitig müssen wir uns stark wehren gegen Menschen, die unsere Kinder demotivieren. Die ein sogenanntes „Fixed Mindset“ haben und sagen: „Der Junge ist einfach schlecht in Mathe.“ Das ist wirklich schädlich und führt dazu, dass ein Kind aufhört, es zu probieren. Dann ist es eines Tages tatsächlich schlecht in Mathe. 

Das Erkennen der Existenz und des Unterschieds dieser zwei Mindsets ist eine Ihrer zentralen Forderungen gegenüber Eltern und Lehrkräften. Wenn ein Kind sagt: „Ich kann das nicht!“ sollte man ihm entgegen: „Du kannst das NOCH nicht!“ 

Ich behaupte: Kein englischsprechender Lehrer hat noch nie von „Growth Mindset“ gehört. Alle arbeiten schon deshalb damit, weil es so einfach ist. Es kostet nichts, man braucht kein Material, nicht mehr Zeit, nicht mehr Bildung. Man muss nur wissen, wie wichtig es ist, dass ich Kindern beibringe, dass ihre Fähigkeiten nicht begrenzt sind, sondern einzig und allein davon abhängen, ob sie sich anstrengen und Mühe geben. Ob sie aus ihren Fehlern lernen.

Viele Kinder haben trotzdem keinen Bock auf Schule und Hausaufgaben.

Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche ein sehr feines Gespür dafür haben, was für sie relevant ist und was nicht. Meine Generation war in der Schulzeit gewiss duckender. Auch durch die „Fridays for Future“-Bewegung kam es mir vor, dass in den Kindern kollektiv die Frage und Anklage erwacht ist: Was hat das mit meinem Leben zu tun? Warum muss ich auswendig lernen, was ich mit einem Klick ergooglen kann? Was mich nicht interessiert und ich nie brauchen werde? Kinder erfahren sich in der Schule häufig nicht ihrer Selbstwirksamkeit. Sie müssen merken: Ich kann etwas bewegen und verändern.

Inwiefern?

Nehmen wir mal an, in der fünften Klasse lernt die Klasse in Biologie alles über die Weinbergschnecke. Das kann man doch langweilig finden. Wieso sucht sich nicht jedes Kind ein Tier aus und lernt darüber alles, was es zu wissen gibt? Viele Kinder werden zuhause anders erzogen. Bedürfnisorientiert. Mit Mitspracherecht. Auf Augenhöhe. Der Zwang zu einem bestimmten Thema funktioniert für sie nicht mehr. Sie erleben eine Dissonanz im Schulsystem. Ich sage Kindern trotzdem immer: Wenn du lernst, lernst du nicht nur die Inhalte, sondern du wirst besser im Lernen. Du trainierst deinen Kopf.

Hilfe zur Selbsthilfe?

Der Fußballer, sage ich, der muss auch dribbeln und um den Platz rennen. Das ist nicht sein Kerngeschäft. Er macht das zum Üben, um ein guter Fußballer zu werden. Auch der Kopf soll sich Inhalte aneignen, dank derer er sich später relevantere Inhalte aneignen kann. 

Aber dafür braucht es Weitsicht, die Kindern in der Regel fehlt.

Exakt, und das ist mitunter sehr schmerzhaft. Selbst für Jugendliche sind zwei Monate ein unendlicher langer Zeitraum. Deshalb müssen sich die Schulen und die Gesellschaft verändern. Kinder brauchen Kompetenzen und ein Wissen darüber, woher sie Wissen kriegen und es bewerten. Aber sie müssen sich nicht länger arbiträr ausgewähltes Wissen aneignen. Kreativität und Team Skills brauchen mehr Raum in Schulen. Zurückweichen muss dafür das Lernen im Gleichschritt. Ich finde es gut, dass Kinder in dieser Hinsicht zunehmend kritisch werden und die Eltern und Lehrer keine Antworten haben. Weil es auf ein eklatantes Problem hinweist, das wir gemeinsam lösen müssen und sich unser Bildungssystem dahin entwickeln muss. Damit Kinder Schule als relevant für sich erleben. 

Und bis dahin?

Man kann auch den langweiligsten Inhalt begeisternd unterrichten. Das beweisen etwa unzählige Latein-Lehrer. Latein hat rein gar nichts mehr mit unserer Welt zu tun! Trotzdem gibt es Kinder, die das lieben. Weil es coole Lehrer gibt. Viel liegt am Unterrichtsstil.

Da sind wir beim Kernproblem: Mit Tipps wie heimischen Lehrplänen, Hörbüchern, Mindmaps, Legevideos, Basteleien und so weiter wollen Sie Eltern und Kindern helfen. Gleichzeitig sagen Sie: Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch.

Ja. Ich habe entsprechend zwei Jobs: Einerseits finde ich Lösungen und Symptombehandlungen für ein krankes System. Andererseits deute ich auf dieses System immer wieder hin. Es darf nicht sein, dass Eltern mich oder mein Buch brauchen. In Dänemark, Finnland oder Schweden gäbe es mich nicht. Die Lehrkräfte würden sich wundern: „Häh, das wissen wir doch alles?!“ Die Eltern würden sagen: „Das brauche ich nicht, das machen meine Kinder alles in der Schule“. Nur wenn es so läuft, haben wir Kinder, die eines Tages bei der Pisa-Studie besser abschneiden. Wir hätten weniger Bildungsabbrecher, was für unsere alternde Gesellschaft von enormem Vorteil wäre. Bis dahin geht so viel kaputt. In den Familien herrscht Streit. Kinder erleben Burn-Out-Symptome. Die Eltern machen Druck, die Schule macht Druck. Dabei ist es keine Hausaufgabe der Welt wert, dass ich mich mit meinem Kind streite. 

Und wenn es nicht um irgendwelche Hypotenusen, sondern um Grundrechenarten geht?

Wenn Kinder ein Jahr Zeit hätten, das alles zu erlernen, würden sie es tun. Sie tun es bloß nicht immer so schnell, wie die Lehrkraft oder der Lehrplan es vorsieht. Dadurch entsteht der Druck. Viele Eltern berichten mir von einem Aufwachen ihrer Kinder: Eines Tages checken sie plötzlich alles. Davor haben sie sich mühselig alles erarbeitet. Für diesen Fortschritt wird kein Raum und keine Zeit gegeben. Eltern sollten sich in diesen Gedanken hineinentspannen. Gleichzeitig verstehe ich deren Sorge, dass ihr Kind in einem Jahr nicht mehr mitkommt. Deswegen brauchen wir individualisierte Lernräume, Arbeitspläne, Tempi und Lehrkräfte als Lernbegleiter. 

In Hohenschönhausen wurde Ihnen eine Lerngruppe wieder weggenommen – Ihrer Meinung nach, weil die Lehrerin Ihnen Ihren Erfolg bei den Kindern nicht gegönnt habe.

Leider ist das kein Extrembeispiel. Wie oft höre ich von engagierten Lehrkräften, dass sie ausgebremst werden. Dass über sie gelästert wird, weil sie coolen, kindernahen Unterricht machen, den Klassenraum schön einrichten. Dieser Geist weht noch viel zu oft. Es steht und fällt mit den Schulleitungen. Auch die brauchen eine Ausbildungsoffensive.

Und die von Ihnen gegeneinander aufgemachten Zahlen, dass in Deutschland 2,5 Millionen Menschen keinen Berufsabschluss haben und es gleichzeitig an 430.000 Fachkräften mangelt? Sind die kein Argument für Veränderung?

Bildung ist arschteuer. Trotzdem zahlt sich jeder investierte Euro aus. Weil wir dadurch bessere Teilnehmer des Arbeitsmarktes gewinnen. Jeder nicht investierte Euro wird wahnsinnig teuer, weil er später doppelt und dreifach in Form von Sozialleistungen gezahlt werden muss. Solche langfristigen Investitionen bringen aber leider nichts für vergleichsweise kurze Legislaturperioden. Man gewinnt damit keine Wahlen. Wer jetzt in Sprachkitas investiert, erlebt in 20 Jahren mehr Menschen mit einem Schulabschluss. 

Ist Geld also die Lösung?

100 Milliarden Euro würden helfen. Allein durch nicht vorhandene Digitalisierung und marode Gebäude haben wir einen Sanierungsstau von 49 Milliarden Euro. Bis dahin hätten wir noch keinen Cent in die Ausbildung von Lehrkräften investiert. Wir bräuchten zudem eine Lehrerlaubnis, die alle paar Jahre unter Beweis gestellt werden muss. Nicht bei der Schulleitung, sondern gegenüber Externen, die coachen und Weiterbildungen verordnen und sagen und fragen: Niemand nimmt dir deinen Job weg, aber ist der Unterricht hier noch zeitgemäß?

Lehrer*innen sind Fans von ihnen.

Unter ihnen genieße ich meist großen Support, ja. Sie empfehlen mich auf Elternabenden und sind dankbar, dass ich mich für bessere Schulen starkmache.

Zur Person:

Caroline von St. Ange gibt Nachhilfe, seit sie 15 ist. Sie hat Philosophie, Sprache, Literatur und Kultur in München studiert und war Fellow bei der Bildungs-Initiative Teach First Deutschland, in deren Rahmen sie zwei Jahre an einer sozialen Brennpunkt-Schule in Hohenschönhausen gearbeitet und unterrichtet hat. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. Der Name ihres Instagram-Kanals lautet @learnlearning.withcaroline. Ihr Buch „Alles ist schwer, bevor es leicht ist“ ist neben einem begleitenden Lerntagebuch im August 2023 im Rowohlt Verlag erschienen.

+++ Dieses Interview ist am 3. November 2023 im „Tagesspiegel“ erschienen. +++

Folgt mir gerne auf Instagram unter https://www.instagram.com/newkidandtheblog/.

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