Wieso ich im Kleingarten auch ohne Kinder selten Ruhe finde

Von wegen Erholung: In der eigenen Parzelle hört auch ohne krakeelende Kinder die Arbeit nie auf. Und dann ist da auch noch die Sache mit dem illegalen Terrassendach. Mein trotzdem versöhnlicher Schreber-Einblick für den „Tagesspiegel“.

Schon schön da: Selfie am Kanal, der 100 Meter neben unserem Kleingarten vorbeifließt

Drei grauhaarige Männer in Kurzarmhemden, Shorts und Sandalen stehen vor unserem Gartenzaun. Statt der ersten Früchte meiner dritten Brandenburger Kleingarten-Saison ernte ich kritische Blicke. Ich schalte den Rasenmäher aus und begrüße sie. Es ist Samstagvormittag. Dass sie nicht nur quatschen wollen, ahne ich schon von Weitem. Ich kenne sie.

„Fabian, das Terrassendach muss nun wirklich abgerissen werden“, sagt der Vorstandsvorsitzende so freundlich wie fordernd, „sonst kriegen wir alle Ärger mit dem Bezirksverband!“ Sein kräftiger Stellvertreter nickt mit verschränkten Armen. Der Nachbar hält sich raus.

Dass besagtes Vordach laut Kleingartenverordnung einen illegalen Anbau darstellt, den unsere Vorpächter ohne Genehmigung wohl nie auf dem Grundstück hätten umsetzen dürfen, erfuhr ich bereits bei Übernahme dieses 560 Quadratmeter großen Kleinods, rund eine Stunde nördlich von unserer Wohnung in Berlin-Kreuzberg, im Juni 2021.

Fündig wurden wir nach monatelanger Suche über ein Online-Inserat, auf das wir binnen Minuten reagierten. Zwei Tage später fuhren meine Frau und ich raus nach Brandenburg, um uns mit dem wegziehenden Frührentnerpaar sowie dem Vorstand einig zu werden. Hunderte Anfragen habe es gegeben. Wir hatten Glück, dass die Vorpächter bei uns noch ans Telefon gingen, uns offenbar sympathisch fanden und unsere ernsthaften Absichten erkannten.

Bei der Besichtigung trauten wir unseren Augen kaum: Die Anlage lag abseits und abschüssig von einer Landstraße, geschützt von Tal und Bäumen und Wald und einem Kanal. Keine Parzelle glich der anderen, hier wurde nichts am Reißbrett entworfen. Selbst fragwürdige Flaggen sahen wir auf Anhieb nicht.

Vor unserem inneren Auge lasen wir Bücher auf der Hollywoodschaukel, während die Kinder fröhlich im Planschbecken baden. Den bevorstehenden Abriss des eigentlich sinnvollen Vordachs, an dem sich außer den Auflagen und ihrer Exekutive niemand stört, nahmen wir ebenso in Kauf wie die Entfernung der sowieso hässlichen Koniferenhecke (Ich lernte: Nadelgehölz versauert den Boden, schadet Birnbäumen und kann mit seinen Wurzeln Gehwege beengen!).

Aber hey: Zum Glück kontrolliert niemand die Höhe des Rasens oder die Einhaltung der Ein-Drittel-Regelung zum Anbau von Obst, Gemüse und Nutzpflanzen. Zum Glück sind alle Nachbar:innen sehr freundlich. Und zum Glück wussten wir nicht, wie viel Arbeit so ein Kleingarten auch abseits der Umsetzung von Auflagen mit sich bringt. Wir hätten es uns vielleicht anders überlegt.

Die nächste Generation Laubenpieper

Der Deutschen liebstes Hobby ist ihr Garten. Hinter Doppelhaushälften ebenso wie neben S-Bahn-Trassen und auf dem Land. In Deutschland existieren aktuell, Stand März 2023, 889.971 Schrebergärten. Der Bundesverband Deutscher Gartenfreunde schätzt, dass fünf Millionen Menschen, also Familien plus deren Freunde, einen solchen Garten nutzen.

13.310 Kleingartenvereine sind offiziell gemeldet, mit einer Parzellen-Durchschnittsgröße von 370 Quadratmetern, sie alle unterliegen mittlerweile den einheitlichen Regelungen des Bundeskleingartengesetzes. Ein Mindestmaß an Ordnung muss eben sein, auch wenn dieses bisweilen wilde Blüten treibt.

Verwaltet werden die kleinen Paradiese in 503 Verbänden und 20 Landesverbänden. Mit 66.000 Kleingärten ist Berlin – als größte Stadt Deutschlands wenig überraschend – bundesweiter Anführer unter den Städten. Sachsen-Anhalt ist mit 85.916 Mitgliedern das Bundesland mit den meisten Kleingärtner:innen, Berlin zählt 65.981, Brandenburg 60.100. Wir gehören jetzt dazu. Wir sind die Neuen. Was wir wollen? Im Grunde das Gleiche wie die Generation vor uns, wenngleich aus einer anderen Motivation heraus.

Kleingartenvereine wurden einst gegründet, um Städtern mit kleinen Wohnungen und Einkommen zur körperlichen Ertüchtigung, zur Erholung und zur temporären Stadtflucht zu verhelfen. Diese Idee wurde in Ballungszentren wie Berlin längst ad absurdum geführt: Schreber*in wird in der Regel, wer drei bis sieben Jahre auf einer Warteliste hängt, weit fahren will oder genug Geld übrig hat.

Unter anderem die Corona-Pandemie hat das Konzept so attraktiv wie nie gemacht: In der Welt da draußen ist Dauerkrise, es herrscht ein ständiges Gefühl der Angst und Unsicherheit. Große Urlaubsreisen sind oft nicht mehr drin, Billigflieger verpönt. Die Kosten für Wohnraum, Energie, Lebensmittel und Freizeit steigen, die Gehälter tun es nicht. Die meisten Eltern in Deutschland, so auch wir, sind sich sicher: So gut wie uns wird es, bei aller Fürsorge, unseren Kindern und Enkelkindern nicht mehr ergehen. Der Alltag gleicht einem niemals endenden Doomscrolling in Social-Media-Apps, To-do-Listen und „Was wäre, wenn“-Fragen.

In Kleingärten ist die Welt noch in Ordnung

In Kleingärten hingegen scheint die Zeit auch außerhalb der Mittagsruhe stillzustehen. In dieser Welt herrscht Ordnung. Unter den Trampelpfaden liegt keine Glasfaser, höchstens Glaswolle unter den Dächern der Lauben. Likes werden analog gesammelt.

Viele Pächter*innen verbringen seit Jahrzehnten die Sommermonate in ihren Parzellen. Sie kennen, grüßen und helfen sich, manche brechen gewiss auch kleinbürgerliche Streitigkeiten vom Zaun, erzählen sich vom Chaos da draußen aber oft nicht viel. Sie wissen mutmaßlich: Hier habe ich meine Ruhe – oder könnte sie haben. Zu tun gibt es immer genug.

So war es auch bei uns: Klar, selbst ein Inneneinrichtungs-Legastheniker wie ich erkannte auf den zweiten Blick, dass von Ecksitzgarnitur über Holzvertäfelung bis zu Teppichböden alles aus der Datsche rausmüsste. Aber das sagten wir natürlich nicht laut und staunten dafür über die gebügelten Handtücher und die Ausstattung aus den Neunzigern: DVD-Player, Rätselhefte, Spitzengardinen, Topfsets für fünf Großfamilien.

Es artete in Arbeit aus: Hinter den vergilbten Brettern lauerten versenkte Steckdosen, bröckelnder Putz und feuchte Stellen. Kurzerhand rissen wir auch das olle Bad und die Dachverkleidung raus, legten die Balken frei und schliffen sie, ließen die Elektrik erneuern, die Wände verputzen und Estrich auf den Boden kippen.

Ebenfalls sehr schön: Lupinen. Mögen auch die Bienen.

Wir schliefen mit den Kindern auf einer staubigen Baustelle, ernährten uns von Fertiggerichten, an Gartenarbeit oder gar Entspannung war im ersten Jahr nicht zu denken. Und als im Dezember das Gröbste fertig war und sogar ein kleiner Holzofen Wärme spendete, entdeckte ich einen wachsenden Wasserfleck an der Decke des neuen, naja, Nassbereichs. Die alte Teerpappe auf dem Massivhäuschen hatte offenbar mindestens einen Riss und brauchte eine neue Schicht. Zack, noch mal 2000 Euro weg.

Klar: Läge unser „Freitagshäuschen“, wie wir es nennen, nicht eine Stunde Fahrt entfernt und hätten wir keine Arbeit und keine kleinen Kinder, wir wären schneller vorangekommen. Umso unglaublicher erschien es mir, als wir uns in Jahr 2 plötzlich doch dem Garten widmen konnten: Wegplatten umlegen, Unkraut rupfen, Büsche und Bäume pflanzen, Tomaten, Gurken, Auberginen, Kohlrabi und Kartoffeln säen, Äpfel und Johannisbeeren ernten.

Helfen Apps bei der Apfelernte?

Nun, in Jahr 3, fahren wir manchmal nur deshalb hin, um den Rasen zu mähen, in den Kanal zu hüpfen und nach dem Rechten zu sehen. Sogar der Hollywoodschaukel haben wir ein anderes Plätzchen und neuen Lack spendiert. Also fast so, wie wir uns das mal vorgestellt hatten.

Damals trieben mich Fragen um wie: Helfen Apps bei der Apfelernte? (Nein, aber bei der Pflanzenerkennung.) Besteht die Abwassergrube die Dichtheitsprüfung? (Ja, sonst wäre die Kacke am Dampfen gewesen.) Wo zur Hölle kriege ich schnell gute, zuverlässige und bezahlbare Handwerker her? (In der Kombination nirgends.) Wie verstehe ich mich so gut mit unseren Nachbar:innen, dass wir einander helfen, aber bitte nicht jedes Wochenende gemeinsam grillen? (Freundlich und diplomatisch sein!) Und: Bin ich selbst längst der, der ich nie sein wollte? (Ich hoffe nicht…)

Heute habe ich Zeit, den vom Sturm zerstörten Bambuszaun mit Draht zu flicken, den Schuppen aufzuräumen und den Rest der darin gelagerten ehemaligen Holzvertäfelung kamingerecht kleinzusägen. Dass ich oft noch immer keine Ruhe finde, liegt also an mir – und meinen wilden Kindern, die ihre grünen Daumen und ihr inneres Zen noch immer nicht entdeckt haben.

Die Wasserbahn steht bereit, ein menschenleerer, malerischer Kanal zur Abkühlung fließt 100 Meter weiter die Kolonie entlang, in der Umgebung gibt es zahlreiche zu inspizierende Badeseen. Leider reißen die Streitpunkte um Medienzeiten dort nicht ab. Konsequent wäre, wir nähmen Tablet und Konsole gar nicht erst mit. Erstens aber haben wir die Regel aufgestellt, dass Fernsehen oder Zocken nur an Wochenendabenden erlaubt ist – und wir sind, zumindest außerhalb der Ferien, nun mal ausschließlich an Wochenenden im Garten.

Zweitens freue ich mich selbst sehr über zwei Stunden ohne streitende Kinder, um vor Ort auch was zu schaffen. Die Rechnung, dass meine eines Tages dort freudig mithelfen, buddeln, graben, Unkraut zupfen oder ernten, ging bisher nicht auf. Trotzdem ist es angesichts der gerade im Sommer brechend vollen Berliner Freibäder und Parks allemal ein Segen zu wissen, was man am Wochenende mit der Familie machen kann.

Selbst an heißen Sommersonntagen können wir hier in Ruhe baden. Schon dafür hat sich der Garten gelohnt!

Mit unseren Nachbar:innen haben wir großes Glück gehabt: Ohne (die eigentlich anders heißenden) Peter und Mechthild aus der Parzelle nebenan wüssten wir bisher noch weniger übers Gärtnern als jetzt noch, unsere neuen Blumen und Büsche wären während unseres Sommerurlaubs kläglich vertrocknet, unser Rasen von verfaultem Fallobst ruiniert.

Die meisten Dialoge mit anderen Gartenfreund:innen reduzieren sich auf Smalltalk. Beim Sommerfest des Vereins habe ich gelernt, dass sich die Pächter:innen im Grunde in zwei Gruppen aufteilen: die Alteingesessenen, die insgeheim herzlich wenig Bock auf Wessis haben, so wurde es mir gesagt. Und die Jüngeren, die, sofern sie aus Berlin kommen, von den Alten als Gentrifizierungsgefahr gesehen werden, ohne dass denen dieses Wort ein Begriff wäre.

Sonnensegel statt fixem Terrassendach – sieht im Sommer gut aus, sammelt aber gefährlich viel Wasser, wenn wir mal ein paar Tage länger nicht da waren. Und wegen der Entfernung ja in der Regel nicht sind.

Die aber – teilweise zu Recht – Sorge haben, dass aus ihrem Ackerland unbezahlbare Wochenendgrundstückchen werden. Entweder im übertragenen Sinne: Berufstätige Hauptstädter wie wir etwa haben selten Zeit, auch unter der Woche nach dem Rechten und Grünen zu sehen. Oder im direkten: Wenn Bezirks- oder Landesverbände keine kleingärtnerische Nutzung mehr erkennen oder ihre Ordnung anderweitig übergangen sehen, kann die Stadt Garagen auf die Gärten knallen oder aus Pachtland Bauland machen.

In Berlin etwa sollen insgesamt 82 Prozent der Gesamtfläche aller Kleingärten dauerhaft erhalten bleiben, bis 2030 aber „voraussichtlich rund 0,5 Prozent für den steigenden Bedarf an Schulen, Kitas, Sportplätzen oder anderen sozialen Einrichtungen in Anspruch genommen werden“.

Entsprechend lautet das Mantra unseres Vorsitzenden: „Wenn sich alle an ein paar Regeln halten, ist die Welt in Ordnung.“ Und deswegen muss auch unser Terrassendach ab.

Dass wir unseren Garten lieben und seinen, nein, unseren Verein ausreichend ernst nehmen, hat er, so glaube ich, kapiert. Wir sind halt immer noch die Neuen, so lange, bis wir irgendwann vielleicht die Alten sind.

Dieser Text erschien zuerst am 29. Juli 2023 auf „Tagesspiegel Plus“ und am 6. August 2023 im gedruckten „Tagesspiegel“.

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