Gewalt ist nie eine Lösung – aber sie braucht eine

Kein Elternteil will, dass sein Kind Opfer von Gewalt wird. Täter aber bitte auch nicht. Wie begleiten Mütter, Väter, Lehrer:innen und Fachpersonal Grundschüler:innen gesund durch die Gratwanderung zwischen dem Einfühlungsvermögen gegenüber anderen und sich selbst? Wenn ich das nur mal genauer wüsste. Meine Jahresanfangskolumne für das Deutsche Schulportal, jetzt auch hier online.

Nelson Muntz und seine Gang drohen mit Schlägen – werden mit Instrumenten aber schließlich ein Lied aufführen

Wäre ich gläubig, ich würde drei Kreuze machen: Unsere Schulkinder (9 und 6) wurden, soweit ich weiß, noch nie Opfer von Gewalt. Gut, sie berichteten das eine oder andere Mal von Kindern, die sie auf dem Schulhof im Streit traten oder schlugen. Ich will solche Vorfälle nicht kleinreden oder verharmlosen, wir suchten danach jedes Mal das Gespräch mit dem jeweiligen Aufsichtspersonal. Dennoch behaupte ich: Solche Auseinandersetzungen gehören wohl oder übel zum Heranwachsen dazu. Jedes Kind geht anders mit seinen Emotionen und Temperamenten um, Opfer und Täter müssen ernstgenommen werden, zumal seit Beginn der Pandemie aggressives Verhalten unter Schüler:innen je nach Schulstandort um 14 bis 44 Prozent zugenommen hat, wie eine Umfrage des Deutschen Schulbarometers 2021 ergab. Vermeidbar sind solche Vorfälle nicht. Wichtiger erscheint mir deshalb das Erlernen des bestmöglichen Umgangs mit solchen Situationen.

Wenn ich als Vater an „Opfer von Gewalt“ unter Kindern denke, bauen sich vor meinem inneren Auge bedrohlichere Szenarien auf. Da geht es um gezieltes physisches oder psychisches Ärgern, das dieses harmlose Wort nicht mehr verdient, um das Erkennen von Schwächen, um selbst den Stärkeren markieren zu können. Um individuellen oder systemischen Machtmissbrauch, um Ausschluss. Seit der Geburt meiner Kinder habe ich Angst, dass ich mich eines Tages als Elternteil mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen muss. Sei es, weil mein Kind einstecken musste, oder weil es austeilt.

Wann fängt Gewalt an?

Beides kann niemand wollen. Ich war selbst nie Opfer von ernsthaftem Mobbing. Aber ich werde nie vergessen, wie es sich anfühlte, als zwei Halbstarke in der Klasse über mir, ich war vielleicht 11, meine Sporttasche klauten, sie hin- und herwarfen und nicht wieder herausrückten. Oder, schlimmer noch, als nach Beginn der Pubertät der Spott über meine starke Akne nicht enden wollte. Geprügelt habe ich mich nie und frage mich gerade dennoch: Fängt Gewalt vielleicht doch schon früher an, als ich eingangs behauptete?

Ich bin kein Pädagoge und habe keine Ahnung, ob wir als Eltern richtig an die Sache herangehen. Aber ich kann sagen, dass wir unseren Söhnen nahezu täglich erklären, was unserer Meinung nach in welcher Situation okay ist und was nicht. Schlagen? Nie als Erster und bitte nur in Notwehr, wenn Worte nicht mehr helfen und kein Erwachsener in der Nähe ist. Sich über andere lustig machen? So ein Verhalten macht dich nicht cool, sondern uncool. Denke immer daran: Du könntest selbst derjenige sein, über den andere Kinder lachen.

Gefühle und Grenzen benennen

Würdest du das wollen? Nein? Dann behandele deine Mitschüler:innen bitte ausnahmslos so, wie du selbst behandelt werden willst. Jemand hat dich beleidigt, dir etwas geklaut oder sich sonst wie gemein verhalten? Erkläre ihm oder ihr, warum du das nicht willst, und behalte es nicht für dich, sondern berichte umgehend der Klassenlehrerin davon. Wohlwissend, dass dieser Tipp unter Teenagern womöglich noch mehr Ärger nach sich zieht.

Während hauende Kleinkinder sich oft noch nicht anders zu helfen wissen, sollten es Jugendliche durchaus. Dass es Grenzen im Umgang miteinander gibt, kann niemand früh genug lernen, unabhängig von der eigenen Motivation. An dieser Stelle muss ich wieder an ein beruhigendes Zitat von Autor Malte Welding denken: „Sie wollen dir nichts Böses. Sie wollen nur für sich das Beste.“ Das mag aus Sicht von Kleinkindern gegenüber ihren Eltern stimmen. Ob das auf ältere Kinder gegenüber ihren Mitschüler:innen ebenfalls zutrifft, muss wohl mitunter bezweifelt werden.

Mücke, Schaf und Löwe: Coaching zum Umgang mit Gewalt

Weil die Welt da draußen nicht so friedlich ist, wie wir sie gerne hätten, müssen wir unseren Kindern leider auch anderes mit auf den Weg geben: Sei kein Opfer. Steh gerade. Schau dein Gegenüber an. Rede klar und deutlich, benenne deine Wünsche, Gefühle und Grenzen. Verhaltensempfehlungen, mit denen neulich auch ein in solchen Fragen geschultes Team an unserer Grundschule anrückte. Einen Tag lang haben sie vor Erst- und Zweitklässlern zum Beispiel darüber referiert, dass sie, wenn eine Mücke sie piksen und provozieren will, sie selbst nicht wie ein Schaf reagieren und maulen sollen, sondern so in sich ruhend wie ein Löwe.

Ein Ansatz, der beim dazugehörigen Elternabend prompt zu Diskussionen führte, denn: Wer Mobbing kennt, weiß, dass Schweigen und Weggehen das Problem oft eben auch nicht lösen. Den Kindern wurden Merksätze und dazugehörige Handbewegungen gezeigt, Hilfen zur Selbsthilfe, sozusagen. Klingt theoretisch schön und gut, praktisch lässt sich die Ursache einmal begonnener Streitigkeiten vermutlich nicht mit ein paar warmen beziehungsweise eindeutigen Worten lösen – zu individuell in der Regel die Probleme jedes beteiligten Kindes.

Die Erstklässlerinnen und Erstklässler haben Unterlagen mitgekriegt, in denen von einem „Schockwort“ die Rede ist. Da heißt es: Wenn der Konflikt auch nach der dritten klaren Aussage nicht beendet sei, solle laut „Stopp!“ oder „Hey!“ gerufen werden, gefolgt von einer erneuten klaren Aussage – und zack, sei der Konflikt beendet! Als ob es so einfach wäre.

Wer Bullys kennt, weiß, dass viele sich dadurch erst recht angestachelt fühlen. In dem Zusammenhang finde ich ebenfalls die Erklärung schwierig, dass Täter sich unterlegende Menschen als Opfer suchten. Damit Kinder nicht in diese Rolle fielen, sollten sie zum Beispiel aufrecht gehen und stehen, ihre Umgebung wahrnehmen und Blickkontakt aufbauen.

Sensibilisieren für ein empathisches Miteinander

Ich verstehe diesen von mir ja bereits selbst vermittelnden Ansatz und wundere mich gleichzeitig darüber: Vermitteln wir ihnen damit nicht, dass die Opfer selbst daran schuld sind, wenn sie zu welchen werden? Ich vermute, solche niedrigschwelligen Angebote, Beratungen und Coachings sollen nicht mehr und nicht weniger als das sein, was sie sind: Präventions- und Sensibilisierungsprogramme für ein empathisches Miteinander. Und als solche dürften sie mehr helfen als schaden, auch wenn über einzelne Handlungsvorschläge diskutiert werden kann oder sogar muss.

So oder so: Da ich schon täglich beim Versuch der Friedensvermittlung zwischen zwei Brüdern scheitere, verkünde ich hiermit meinen großen Respekt an alle Lehrerinnen und Lehrer, die neben ihrem eigentlichen Job der Wissensvermittlung die Mammutaufgabe des nachhaltigen Streitschlichtens mit übernehmen. Dies ist nämlich der viel wichtigere Teil ihrer täglichen Arbeit, der, soweit ich weiß, in der Ausbildung aber viel zu kurz kommt.

Wichtiger, weil es am Ende jeder Schullaufbahn mehr zählt, dass aus schützenswerten kleinen Kindern nicht egoistische Überflieger mit harten Ellbogen werden, die nur deshalb in unserer kapitalistischen Gesellschaft „funktionieren“, weil sie andere kleinhalten, sondern mündige, aufrichtige, selbstständige und emphatische Mitmenschen, die wissen, dass Gewalt nie eine Lösung ist, aber eine braucht.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Zurück nach oben