Feuer bei Frau M.

Was tun, wenn der Balkon gegenüber brennt? Über Sicherheit, Anonymität und Altern in der Großstadt.

Könnte so irgendwo in Deutschland stehen: eine Neubau-Hausfassade mit Balkonen in Kreuzberg. Aber nicht die gegenüber unserer.
Könnte so irgendwo in Deutschland stehen: eine Neubau-Hausfassade mit Balkonen in Kreuzberg. Aber nicht die gegenüber unserer. (Foto: Fabian Soethof)

„Es brennt!“

Meine Frau schaut aus dem Fenster und ist außer sich. Ich springe von der Couch auf. Tatsächlich: Auf dem Balkon gegenüber lodern Flammen. Wir brauchen ein paar Sekunden, um die Eindrücke einzuordnen, da stürmt aus dem Nachbarhaus ein Mann heraus. „Feuer, Feuer!“, ruft er. Passanten auf dem Bürgersteig schauen nach oben. Wird schon wer die Feuerwehr angerufen haben, beruhigen wir uns gegenseitig. Plötzlich aber sehen wir von unserem Balkon aus, was die Menschen auf der Straße nicht sehen können: Da steht ein alter Mann oder eine alte Frau auf dem Balkon. Klein, gebückter Gang, langsame Bewegung, graues Haar. Er oder sie kippt etwas auf das Feuer – und im gleichen Moment schießt eine Stichflamme nach oben. Für ein paar Sekunden steht der ganze Balkon in Flammen und ich weiß nicht, ob die Person das Feuer löschen oder anheizen will.

Ich renne herunter, über die Straße, ins Nachbarhaus hinein. „Hier brennt es irgendwo!“, rufe ich den anderen Nachbarn zu, „nee, dit muss im Nachbarhaus sein“, antwortet eine. Ich spute die Stockwerke des 70er-Jahre-Neubaus hoch und klopfe an die Tür im vierten Stock, hinter der ich den Brand vermute. Im Nachhinein lebensmüde, denn woher sollte ich wissen, ob es nicht auch in der Wohnung längst brennt? Hat mir doch schon Feuerwehrmann Sam erklärt, dass man in solche Gefahrenquellen nicht blindlings reinrennt! Eine Nachbarin sagt, hier wohne Frau M., allein, sie habe eine Schlüssel für die Wohnung. Eine andere sagt, ich solle mich beruhigen, als ich drängele. Sie hat die Flammen von außen nicht gesehen.

„Hinter all diesen Fenstern sitzen Menschen.
Du hast es immer geahnt,
dass sie es wert sind zu bleiben
du bist den ganzen Weg gerannt.“

Als wir die Tür ihrer Wohnung öffnen, steht Frau M. seelenruhig vor uns. Ja, antwortet sie völlig unaufgeregt, sie wisse, dass es brenne, sie schütte gerade Wasser nach. Ungebeten und ohne mir die Schuhe auszuziehen renne ich auf ihren Balkon um mich zu vergewissern: Ja, die Flammen sind gelöscht. Es glüht und raucht und schwelt noch. Schnappe mir den nächstbesten Eimer, hole Wasser und lösche nach. Plastikstühle, Sitzkissen, Kunstrasenteppich, Regenrohr, alles angeschmolzen und verkohlt. Wie das passiert ist? Weiß Frau M. nicht. Sie habe in ihrem Sessel gesessen und ferngesehen und irgendwann hinter sich das Licht der Flammen bemerkt. „Haben Sie vielleicht geraucht oder eine Kerze angemacht?“, frage ich. „Ja, dann habe ich wohl geraucht…“, antwortet sie kleinlaut. Wissen tut sie es anscheinend nicht.

Die Feuerwehr trifft rund zehn Minuten später mit mehreren Wagen ein. Einer der Feuerwehrleute und eine Polizistin machen sich ein Bild von der Lage und geben Entwarnung. Ich verabschiede mich. Als mich im Treppenhaus herumstehende Nachbarn fragen, was passiert sei und ich kurz antworte, wundern sie sich: „Aber die raucht doch gar nicht“, sagen sie und tuscheln weiter.

Besuch am nächsten Tag

Noch am selben Abend fahre ich aufgewühlt zum nächstbesten Baumarkt und kaufe drei Feuerlöscher. Zwei für uns, weil wir gar keine haben, einen für Frau M.. Am nächsten Tag besuche ich sie samt Mitbringsel. Will nur wissen, wie es ihr geht. Sie bittet mich hinein und führt mich herum, aus den geplanten fünf Minuten Nachbarschaftshilfe werden 50. Ich schaue mich genauer um.

Die Wohnung von Frau M. sieht so aus, wie man sich Wohnungen von Rentnern so vorstellt: Teppich, Holzvertäfelung, abgehangene Decken, Schrankwände. Bilder und Sporturkunden von Familienmitgliedern. Fliesentisch. Festnetzanschluss. Der Fernseher läuft. Wäre das Feuer eingetreten, hier hätte Minuten später alles in Flammen gestanden. Was denn nun passiert war? Frau M.: „Ich habe wohl geraucht, den Aschenbecher draußen in den Müll gekippt, nicht mehr daran gedacht, und dann, ja, dann brannte es …“

Frau M. ist 83 Jahre alt. Sie liest „Freizeit Revue“, manchmal kauft sie aus Versehen die gleiche Ausgabe zweimal. „Aber nicht alles glauben, was da drin steht!“, sage ich. Sie lacht. So wie sie bei allem freundlich lächelt, was ich sage. Sie erzählt von ihrem Mann, davon, wie er hier gestorben ist. Wann das war, weiß sie nicht mehr. Von ihrem Sohn, der gerade in Südamerika sei und deshalb nicht helfen könne. Ob sie Enkelkinder hat, weiß sie nicht. Dann entdeckt sie Fotos in ihrer Stube und einen selbstgebastelten Kalender. Doch doch, drei Kinder habe ihr Sohn, die Bilder seien aber schon älter, mittlerweile seien sie erwachsen. Die Namen fallen ihr nicht ein.

Sie erinnert sich daran, wie sie mit ihrem Mann die Wohnung suchte und fand. Als das Haus gebaut wurde, seien sie auf die Baustelle marschiert, hätten gefragt und Glück gehabt. Diese Geschichte und die, wie ihr Mann hier starb, erzählt sie mir zehn Minuten später nochmal. Ich denke an meine verstorbene Oma Paula. Sie war nie wirklich dement, wurde aber immer vergesslicher. Was gerade, vorhin oder gestern passierte, vergas sie oft. Auch Namen verwechselte sie. Was die Nachbarn vor 50 Jahren zu ihrem Mann sagten, wusste sie stets genauso auswendig wie die Gedichte aus ihrer Schulzeit. Meine Oma hatte eine Großfamilie, es war immer jemand da.

Frau M. lebt allein. Das ist zumindest mein Eindruck nach dem Besuch. Eine junge Frau aus Polen wohne zwar in dem Zimmer, in dem sie früher ihren kranken Mann pflegte, aber die ist „seit 2 Tagen schon“ verreist. Ich kann nur spekulieren, ob Frau M. nicht auch zwei Wochen meinen könnte. Im Alltag kommt sie noch klar, sagt sie. Auch dank des Aufzugs. Ich lasse meine Handynummer da. Falls sie Hilfe braucht beim Entrümpeln des Balkons, der ist ja nun völlig verußt, verkokelt und nass. Oder mal beim Einkaufen. Sie freut sich über das Angebot. Empfehle ihr Kauf und Installation von Rauchmeldern, nehme zwei versengte Plastikstühle mit runter und werfe sie in den Müll.

Dabei treffe ich eine andere Nachbarin, die mich vom Vortag wiedererkennt. „Wie oft Frau M. schon den Herd angelassen hat“, lamentiert sie. Sie sei dement, ja, früher hätten sie sich aber gut verstanden. Manchmal hätte Frau M. abends um 23 Uhr bei ihr geklingelt und ihr eine Stunde lang Geschichten erzählt. Anstrengend sei das geworden. Und eines Tages habe Frau M.s Enkelsohn dieser Nachbarin gesagt, sie solle seiner Großmutter bitte nicht mehr helfen, sie sei ein schlechter Umgang für sie. Seitdem hält sie Abstand und warnt mich: „Halten Sie auch lieber Abstand, sonst werden sie ihres Lebens nicht mehr froh.“ Ich bin kurz perplex und antworte: Wäre diese Frau in ihrer Wohnung verbrannt, weil ich zu lange zugesehen hätte – nur dann wäre ich meines Lebens vorerst nicht mehr froh geworden.

Seit unserem notfälligen Kennenlernen habe ich Frau M. nicht wieder gesehen. Ihren schwarzen Balkon sehen wir jeden Tag.

Kettcar – „Balkon gegenüber“, von ihrem 2003 erschienenem Debüt „Du und wie viel von Deinen Freunden“ (Fanvideo)

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