Ein paar erinnernde Worte* zum Tod meiner Großmutter, der Uroma unseres Sohnes. Im November wäre sie 96 Jahre alt geworden. Ein Vorbild bleibt sie weiterhin.
Man kann sich nicht von seiner eigenen Großmutter verabschieden, ohne gleich zu Beginn „Danke“ zu sagen. Danke für ihr Lachen. Ihre Zufriedenheit. Ihren Frohsinn. Den Lebensmut. Die Genügsamkeit. Ihre Nächstenliebe, ihren Glauben sowie vor allem den Glaube an das Gute im Menschen. Aber auch für die Tafeln Schokolade, die jeder Enkel kriegte, nachdem er sie besuchte. Für die Kerzen, die sie anzündete, wenn jemand auf Reisen ging. Dankbarkeit ist nämlich nicht nur das, was sie ihrer Familie lehrte und ständig mit auf den Weg gab, es ist auch das, was sie fast 96 Jahre ihres Lebens lang vorlebte. Bis zum Schluss: Als wir sie anderthalb Wochen vor ihrem Tod im Krankenhaus besuchten und jedes Wort, jeder Atemzug sie Kraft kostete, die ihr davonrann, da konnte sie sogar dem Pfleger nicht genug danken, der ihr aus dem Bett half. Sie lachte ihn an, sie drückte ihm die Hand, sie wollte ihm unbedingt noch etwas geben – ein bisschen Geld, Süßigkeiten, was auch immer. Als ob sie ihm mit ihrer Dankbarkeit und ihrem Lachen nicht schon das Wertvollste gegeben hätte, was sie besitzt.
Wer mit ihr sprach, ob am Telefon oder zuhause in ihrem Wohnzimmer, der hörte ziemlich schnell, wie zufrieden sie war, einen solchen Lebensabend zu haben. Gesund, in Gesellschaft. Fast reflexartig hörte man sie sagen: „Papa ist seit 1971 tot, aber ich habe liebe Kinder! Acht Kinder, elf Enkelkinder, und aus allen ist was geworden!“ Sie erinnerte sich dann immer an früher, an Geschichten aus den Zeiten, als Opa und sie nichts hatten. Wer Oma Paula nicht kannte, könnte fast meinen, ihre immerwährenden Danksagungen und Zufriedenheitsbekundungen wären liebe Floskeln, so wie etwa andere sagen „Joa, muss ja!“, wenn man fragt, wie es ihnen geht. Aber wer sie kannte, der weiß: Nein, sie meinte das wirklich so. Dass sie am Ende doch alles hatte, was sie brauchte.
Paula Soethof, geboren 1919 in Kerken-Nieukerk als Paula Strathen, heiratete 1944 August Soethof, Bäcker. Ihr erstes Kind kam im gleichen Jahr auf die Welt, es folgten sieben weitere. Das erste Enkelkind wurde 1965 geboren. Es folgten zehn weitere, insgesamt hat sie elf Enkelkinder. Und die wiederum haben ihr bisher satte zehn Ur-Enkelkinder beschert. Ein Vorteil von Omas biblischem Alter, in das sie es geschafft hatte: Sie hat alle Urenkel noch kennenlernen dürfen. Außerdem war sie für viele Enkelkinder, nicht zuletzt mich, auch wie eine Mutter, für die älteren Urenkel auch eine Oma und so weiter. Die Familie war immer ihr Mittelpunkt – genauso, wie sie der Mittelpunkt der Familie war, ist und immer sein wird. Das durften wir gerade in den vergangenen gemeinsamen Wochen erfahren.
Oma Paula hat in ihren fast 96 Lebensjahren viel erlebt und viel mitgemacht. Ihre Kindheit als eines von neun Kindern. Ist selber früh und mit bereits drei Kindern von zuhause ausgezogen in eine kleine Wohnung. Neun Jahre später folgte der Umzug in ein Haus mit Platz. Unser aller Elternhaus, wenn man so will.
Ungerne erinnerte sie sich zum Beispiel an den Tod ihrer Jugendfreundin, die 1944 bei einem Bombenangriff starb. Oder an ihren behinderten Bruder, den sie aus dem Heim der Nationalsozialisten nach Hause holte und ihn damit vor der Vergasung rettete. Lieber erinnerte sie sich an ihren Urlaub in Spanien, an Reisen nach Zell am See, die sie bis 1992 regelmäßig unternommen hatte. Sie war Mitglied im Heimatverein, im Verein der Kriegsversehrten, hat viel Yoga gemacht und ist gerne gewandert. Ihr Hobby galt vor allem ihrer Liebe zu den Blumen, sie kannte wahrscheinlich alle Arten, die jemals in ihrem Garten standen. Ein anderes Hobby von ihr: die Handarbeiten. Ein von ihr gehäkelter Schutzengel hängt auch bei uns im Auto. In den letzten Wochen hat er sie hoffentlich genauso beschützt wie uns.
Ein letztes Mal holte sie tief Luft, dann hörte sie für immer auf zu atmen. Im Radio läuft „Schwere See“, zum Himmel fährt ein Regenbogen.
— Fabian Soethof (@soethof) 16. September 2015
Wenn man in der Familie nach weiteren schönen Erinnerungen an Oma und Anekdoten mit ihr fragt, hat jeder etliche Geschichten auf Lager: Einmal versteckte sie einen 100-Mark-Schein und vergaß prompt das Versteck. Panik war angesagt, der heilige Antonius wurde diverse Male um Hilfe gebeten. Irgendwann, viel später, tauchte der Schein wieder auf – unter Schals im Flur. Solche kleinen Vergesslichkeiten passierten schon früher: Geschenke für Geburtstage und Weihnachten habe sie oft so gut versteckt, dass sie sie selbst nicht mehr fand, erst viel später wieder. Ihre Enkel denken an ihren „weltbesten Schnibbelskuchen“, die Gute-Nacht-Gebete und an haufenweise Nussschleifen, die Oma samstags immer beim Dorfbäcker gekauft hat. Am Tisch dankte sie „dem Herrn für unsere reichen Gaben“ – und bei den Worten „der der nichts hat“ schossen ihr regelmäßig die Tränen in die Augen. Und all ihre Kinder haben es sehr genossen, wenn sie im Sommer „Urlaubsvertretung“ für meine Tante machten, die sich sonst um Oma kümmerte. Wie ein Urlaub in der eigenen Kindheit sei das gewesen, mit so vielen Erinnerungen, Spaziergängen und gemeinsam angeschauten Fotos.
Ein kleiner Nachteil daran, wenn man sehr alt wird: Oma hat ihre ganze Generation an sich vorbeiziehen sehen. Aber selbst davon ließ sie sich nicht unterkriegen, auch nicht 2006, als sie stürzte, einen Schädelbasisbruch erlitt und sich sogar davon wieder erholte. Auch, wenn sie nicht immer nur Glück im Leben und vor allem nicht soviele Möglichkeiten wie wir heute hatte – das Glas war bei Paula Soethof immer Halbvoll. „Wir hatten ja nichts“, sagte sie wohl wahrheitsgemäß über ihre eigene Geschichte. Aber wer Oma Paula hatte, hatte immer das, was zählt. Sie schaffte es, immer auch die guten Seiten an den schlechten zu erkennen.
Jetzt geht sie auf ihre letzte Reise. Ihre Familie zündet Kerzen für sie an wie sie stets für sie. Der Regenbogen, der nach ihrem letzten Atemzug über Nieukerk und Geldern in den Himmel ragte und ihr den Weg wies, soll sie weiter begleiten.
Ich bin mir sicher: Selbst mit diesem Atemzug wird sie „Danke“ gesagt haben. Und wir sagen es auch.
(*Dieser Text wurde im Namen der Familie verfasst und in geänderter Fassung während der Beerdigung am 22. September 2015 vorgetragen)
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