Keine Feelgood-Urlaubslektüre, aber sehr gut lesbare, nachvollziehbare und wichtige: Alice Hasters erklärt in ihrem persönlichen Standardwerk über Rassismus, warum wir (Weißen) alle nicht so woke sind, wie wir glauben – und weshalb Privilegierte und Nicht-Betroffene das andere Leben nie vollends verstehen werden, es aber wenigstens versuchen sollten.
Während ich in diesem ersten von noch zu vielen kommenden Hitzesommern endlich Alice Hasters‘ 2019 erschienenes Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ lese – längst ein „Klassiker“ der, Spoiler, zurecht in Schulklassen gelesen werden sollte und teilweise wird – liege ich am Strand. Dort, wo weiße Menschen so liegen, wenn sie „braun“ werden wollen. Die Kinder planschen im Wasser, der Sechsjährige singt Lieder vor sich hin, die er im Kindergarten gelernt hat. „Kolonastie Empapie“ zum Beispiel, eigentlich ein Nonsens-Klatschlied, in dem durch die Verwendung von Wörtern wie Kolonie und Safari gefühlt aber afrikanische Stereotypen reproduziert und jene Sprachen verunglimpft werden. Oder „Arabi arabi, Uli Uli Uli gulli Ramsamsam“. Eigentlich ein marokkanisches Kinderlied, das in Deutschland gerne umgetextet wurde und arabische Sprachen sowie Rituale des islamischen Glaubens abwertet. Lieder, über die viele Menschen nichts Böses denken. Weil es „doch nur Kinderlieder sind“. Und weil sie weiß sind und sich über den wertenden und eventuell stereotypen Inhalt bzw. deren Rezeption noch nie Gedanken machen mussten.
Über vermeintliche Kleinigkeiten wie diese hat Journalistin Alice Hasters, in Köln geborene Tochter eines weißen Deutschen und einer Schwarzen Amerikanerin aus Philadelphia, ihr Buch geschrieben. Über Figuren als Urlaubsmitbringsel, die dunkle Haut, große Augen, dicke Lippen und Knochen in der Hand haben. Über Menschen, die ihr ungefragt in ihr Haar greifen oder fragen, ob sie auch Sonnenbrand kriegen könne. Über die seit ihrer Kindheit ständigen Fragen danach, wo sie denn statt Nippes „eigentlich“ herkomme. Über den One-Night-Stand einer ebenfalls Schwarzen Freundin, der danach sagte: „So eine wie Dich hatte ich noch nie.“
Es geht auf den rund 200 eindrücklichen Seiten um Whitewashing, Blackfacing in Karneval und Hollywood, Othering, White Saviorism, Volunteering, Reparationen, den Madonna-Hure-Komplex, die Rolle der Medien sowie die mangelnde Vielfalt in den weißen Redaktionen und so weiter. „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ kommt dabei an keiner Stelle wie ein Lehrbuch daher. Es ist eine sehr persönliche Aufarbeitung der jahrhundertelangen Entstehung von Rassismus geworden, der deshalb tief in unser aller Köpfe steckt. Über so ein wichtiges Buch würde und werde ich anders als in anderen Buchvorstellungen keine Kritik üben. Weil ich nicht betroffen bin und zuhören sollte. Und weil ich durch den Zufall meiner Geburt zu den Privilegierten gehöre.
Ich kann über Rassismus nachdenken – andere können gar nicht anders
Und siehe da: Ich habe mich in diesem Buch sehr oft wiedererkannt. Nein, nochmal, nicht weil ich selbst in irgendeiner Art und Weise diskriminiert wäre, so wie es Deppen wie Dieter Nuhr von sich schon wegen des Titels behaupteten. Im Gegenteil: Wenn überhaupt, bin ich der Aggressor beziehungsweise einer seiner Stellvertreter. Ich bin weiß, ein cis-Mann on top, musste mir darüber meinen bisherigen Lebtag keine Gedanken machen und lebe in einer Gesellschaft, die von Leuten wie mir für Leute wie mich gemacht wurde. Auch ich habe wie jeder Mensch Probleme. Aber keine, die meine Identität und mein Selbstwertgefühl derart hinterfragen und im Argen lassen. In meiner Familiengeschichte gab es zwar zwei Weltkriege und eine Fast-Vergasung des behinderten Bruders meiner Oma, aber as far as I know keine Sklaverei, keine Entwurzelung; bei Wohnungs- oder Jobbewerbungen stehen meine Chancen schon wegen meines Nachnamens und meiner Hautfarbe besser als bei BIPoC, also Black, Indigenous, People of Color. Ich kann über all das nachdenken – aber wenn ich es nicht tue, wird zumindest mein eigenes Leben dadurch nicht schlechter. (Dafür eventuell das meines Umfelds, wie Hasters im für mich beeindruckendsten Kapitel „Nächstenliebe“ in einem offenen Brief an ihren neuen Freund darlegt.)
Deshalb sind Menschen wie ich mit dem Titel gemeint. Ich bin kein Rassist, natürlich nicht, wer würde das außer offenkundigen Neonazis schon von sich behaupten. Aber ich habe Rassismus in mir. Ich weiß, dass ich anders als noch meine Tanten und Onkel früher das N-Wort nicht sage und warum Begriffe wie der weit verbreitete fürs Paprikaschnitzel abgeschafft gehören, ich würde mich als woke bezeichnen, wenn dies nicht längst von den falschen Leuten als Schimpfwort abgewertet worden wäre. Ich war mal auf einer BLM-Demo. Aber ich habe beim Basketballspiel früher auch schonmal gedacht, dass mein Schwarzer Gegenspieler ganz natürlich besser und fitter wäre. Oder dass die Schwarze Person im Geschäft neben mir sehr gut deutsch spricht, obwohl sie vielleicht in Nippes geboren ist. Ich habe sogar mal eine Schwarze Mutter auf dem Spielplatz im Park auf Englisch angesprochen. Wenn ich in Kreuzberg arabische Jugendliche cornern sehe, ist das für mich einerseits stinknormal, andererseits denkt irgendetwas in mir für eine halbe Sekunde, dass die bestimmt kriminell sind oder dass ich lieber die Straßenseite wechseln sollte. Für weiße Menschen wie mich und Dich und Dich ist dieses Buch. Aber auch für alle anderen. Weil es eine Sache lehrt, die ganz unabhängig von Rassismus, Sexismus, Faschismus und Co. wichtig ist beziehungsweise mit deren Vermeidung einhergeht: Empathie (an der es mir selbst oft genug mangelt). Um nicht nochmal „Empapie“ zu klatschen.
Alice Hasters: „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, Hanserblau, 224 Seiten, September 2019 (Affiliate Link)
2 Gedanken zu „Was weiße Menschen wie ich über Rassismus wissen sollten“