Corona-Tagebuch, Teil 3: The New Abnormal | Abstand ist der neue Anstand

Zwangsfrei: Für Kinderlose im Home Office ein Segen, für Eltern in Zeiten von Kita- und Schulschließungen ein Fluch? Nein, we’re all in this together now. Eindrücke unserer weiteren Corona-Tage, Woche drei bis fünf. Zählt noch jemand mit?

Parkhopping durch Berlin. Viel mehr geht mit Kindern außerhalb der eigenen Wohnung ja in diesen Wochen eh nicht.

Am Freitag, den 8. April und damit mitten in der Coronakrise haben The Strokes ein neues Album herausgebracht. Es heißt THE NEW ABNORMAL und ist die erste neue Platte der Band, die Anfang der Nuller aus ihrer New Yorker Garage zu großen Indierockhelden emporstieg, seit sieben Jahren. Auf den Titel kam Sänger Julian Casablancas laut Musikexpress, nachdem er im November 2018 über ein Zitat des damaligen Gouverneurs von Kalifornien, Jerry Brown, stolperte: „This is not the new normal“, soll der damals angesichts der verheerenden Waldbrände gesagt haben. Es handele sich bei solchen Bränden um „the new abnormal“, also um etwas, worauf man sich dauerhaft einzustellen habe. Er spielte auf die Folgen des Klimawandels an, das Zitat würde aber auch zur aktuellen Coronakrise passen: Auch wenn die hiesigen Infektionszahlen milde Hoffnung spenden und Deutschland auf erste Lockerungen der Corona-Maßnahmen und der damit verbundenen anhaltenden Ausnahmesituation wartet, stehen wir nicht am Ende einer Pandemie, sondern am Anfang.

Im Sommer wollte ich eigentlich auf ein paar Konzerte gehen, auf die ich mich aus verschiedenen Gründen sehr freute: Rammstein im Olympiastadion (aus Neugierde und Voyeurismus). Rage Against The Machine beim Lollapalooza Berlin (aus 90er-Verbundenheit, weil ich auch mal Dreads und Shorts trug und weil ich womöglich auch gerne der Wochenend-Rebell wäre, der ich nie war). Pearl Jam in der Waldbühne Berlin (weil es 2018 so schön war). Pearl Jam in Budapest (aus Sammelleidenschaft, habe sie doch erst drölfmal gesehen.) Pearl Jam haben ihre Europatour 2020 mittlerweile abgesagt und auf 2021 geschoben, die anderen Absagen dürften folgen. Es stehen schlechte Zeiten für Livemusik an und harte für all die Menschen, die von Livemusik leben. Bands (kleinere als die genannten), Venues, Festivalveranstalter, Brauereien, Booker, PA-Verleihe, und so weiter. Kaum dunkel genug auszumalen, was in einem Dreivierteljahr an Kulturangeboten außerhalb der eigenen vier Wände auch abseits der Musik überhaupt noch existieren wird. Und von Livestreams sind dann auch die Letzten satt.

Pearl Jam haben übrigens auch ein neues Album veröffentlicht. GIGATON (hier meine Kritik für den Musikexpress) erschien am 27. März und damit ebenfalls inmitten der Coronakrise. Es ist ebenfalls ihr erstes seit sieben Jahren, sein Inhalt könnte aktueller und gleichzeitig überholter nicht sein: Eddie Vedder und Co. ging es während Aufnahmen und Konzeption explizit um die Klimakrise und damit einerseits um etwas, das die Menschheit nur gemeinsam bewältigen kann. Andererseits an etwas, an das gerade niemand so recht denken kann. Weil wir vor einer anderen Krise stehen, die nur gemeinsam zu durchstehen ist.

Ich schreibe diesen Text, während ich auf der Couch sitze und auf Angela Merkels Pressekonferenz zu eventuellen Lockerungen der Corona-Auflagen warte. Fühlt sich an wie Warten aufs Christkind. Mit dem Unterschied, dass man schon vorher weiß, dass es keine Geschenke geben wird. Meine Frau bringt gleich die Kinder ins Bett, wir wechseln uns täglich ab. Wir kommen gut klar: Im Grunde ist für uns fast alles wie vor Corona, nur dass die Kinder den ganzen Tag bei uns sind, die Abwechslung der Rausgehziele rarer wird und wir neben Bespaßung und Haushalt zu noch weniger kommen als sonst. Oh und die erreichte Fernsehabstinenz der Jungs ist natürlich auch wieder hinüber.

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Rückkehr zur Normalität? Hieße für einen weißen privilegierten Festangestellten im Home Office wie mich lediglich, dass die Kindergärten wieder aufmachten und ich „in Ruhe“ arbeiten könnte. Ein Partygänger war ich schon vorher zehn Jahre lang nicht mehr, da hat sich nicht viel verändert. Ich bin außerdem gerade dieser Wochen sehr froh, in Deutschland zu leben. In Sorge bin ich „nur“ wegen des Rests der Welt: Arme, Kranke, US-Amerikaner, Flüchtlingswellen, you name it. Und wegen den Frauen, die in der Geschichte der Gleichberechtigung gerade 50 Jahre zurückgeworfen werden. Weil wieder sie es sind, die in Teilzeit an der Supermarktkasse sitzen, im Altersheim arbeiten und Homeschooling und Haushalt im Alleingang organisieren, damit ihr Mann „in Ruhe“ arbeiten kann, ob weiterhin im Büro oder zuhause. Empfehle dazu diesen Kommentar von Mareice Kaiser bei Edition F sowie diesen Rant von Alu Kitzerow auf ihrem Blog GroßeKöpfe.de. Herd und Homeschooling gehören wieder den Frauen, Gleichberechtigung hört anscheinend dort auf, wo Katastrophen oder Ausnahmesituationen anfangen. Soll das etwa auch dieses „The New Abnormal“ sein?

Ich bin dieser Tage so oft hin- und hergerissen zwischen „Wird schon wieder“ und „Was wird das noch?“ – Fettes Brot kommen in „Jein“ plötzlich beneidenswert entscheidungsfreudig daher. Was ich mich sonst so frage: Wer war die letzte Person, der Ihr die Hand geschüttelt habt? Welche Begrüßung wird dieses bald vergessene Ritual ablösen? Und habt Ihr Euch auch schon beim fragwürdigen Gedanken erwischt, irgendwie beruhigt zu sein, dass die eigenen Großeltern bereits tot sind? Offenbar ja: Auf Twitter und damit dem Ort, den ich für mich persönlich sonst als Gummizelle für Selbstgespräche wahrnehme, habt Ihr diese Frage rege kommentiert:

Apropos Twitter: Hier ein paar vom Familienbetrieb sträflich ignorierte Tweets, mit denen ich mich während und wegen Corona bei Laune halte. Man kommt ja in diesen Wochen eh zu nicht mehr Text als 140 beziehungsweise 240 Zeichen.

So, Merkels Ansage ist raus. Kleine Geschäfte dürfen unter Auflagen wieder öffnen, Kindergärten nicht, am 4. Mai – #maythefourthbewithyou – gibt es das nächste Update. Kann mich nach fünf Wochen auch nicht mehr schocken. Hätte ich doch nur nicht schon alle vier Staffeln „Haus des Geldes“ an den vergangenen zehn Abenden weggeguckt!

Und die Konzerte? Großveranstaltungen dürfen bis Ende August nicht stattfinden. Das ist das endgültige Aus für besagte Shows und den Festivalsommer 2020. Wobei das Lollapalooza Berlin erst im September stattfinden soll und deshalb eventuell Glück haben könnte. Ob ich darauf Bock hätte, wäre aber fraglich. Zumal ja dieser Tage gerade die berühmteste Ansage von Rage Against The Machine so gar nicht gelten sollte: „Fuck you I won’t do what you tell me!“

Ein Gedanke zu ”Corona-Tagebuch, Teil 3: The New Abnormal | Abstand ist der neue Anstand

  1. Mehr als spazieren gehen ist bei uns auch nicht drin 🙁 vor allem jetzt wo es wieder los geht! unseren Kleinen motivieren wir mit einem Go-Kart. Das dient einerseits als motivation zum spazieren gehen und andereseits als Ablenkung. Damit düst er jetzt fröhlich neben uns her. So haben wir trotz Lockdown noch ein paar schöne Tage und können ein wenig die herbstliche Stimmung genießen.

    Liebe Grüße aus München und bleibt Gesund!

    Katrin

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