Jaja, werte Sozialromantiker: Neukölln ist liebenswürdig, räudig, authentisch und aufstrebend, schon klar. Mit Kindern will man dort trotzdem nicht unbedingt länger leben. Ein Rant.
Dass es in Teilen Neuköllns sehr lebenswert ist, möchte ich gar nicht abstreiten. Im Gegenteil: Ohne Kinder lebte ich sehr gerne dort, und selbst mit tat ich das anfangs gern. Eigentlich schöner Kiez, bezahlbare Wohnung, Kita, Familienzentrum, (zu wenige) Elterncafés und Spielplätze um die Ecke. Klar gibt es auch rund um den gentrifizierten Reuterkiez schäbige Ecken und Menschen, aber ich lebe in einer Elternblase, ich blendete die aus: Der Bewegungsradius bemaß sich zwischen, genau, Wohnung, Kita, Spielplätzen, Supermarkt, Eisdiele, Landwehrkanal und Arbeitsplatz nebenan in Kreuzberg 61, und das alles zwischen 8-20 Uhr. Selbst in die angesagten Bars ging ich wegen Kindermüdigkeit und Netflix nur in seltenen Ausnahmen. Soziale Kontakte? Arbeitskollegen, andere Eltern, Smalltalks mit Nachbarn, Kioskverkäufer, Friseur, Bäcker.
Abseits dieser Elternblase und außerhalb der Kreuzköllner Komfortzone zwischen Reuterplatz und Paul-Lincke-Ufer sieht die Neuköllner Realität aber anders aus. Entweder irgendwie lustig, ironisch, urban, wie die Schnappschüsse, die ich manchmal auf Instagram postete und über die eine Ex-Kollegin aus Prenzlauer Berg einst urteilte: „Kannst Du bitte mal noch einen extra Neukölln-Account machen? Dir fällt bestimmt noch ein fancy Name ein, aber das Ding geht ja mit Bildern und Bus durch die Decke 😹😝👌 ich kenn Neukölln eig nur durch Dich hahaha“.
In seiner AirBnB-Ferienwohnung in Berlin gibt er sich ganz volksnah. Ein Beitrag geteilt von fabian. (@whatthefab) am
Falls noch wer einen Beweis brauchte, was für bunte Vögel in #Neukölln leben. Ein Beitrag geteilt von fabian. (@whatthefab) am
Ein ganz normaler Nachmittag im #Columbiabad in #Neukölln. #Wimmelbild #Wahnsinn #Kinderbecken Ein Beitrag geteilt von fabian. (@whatthefab) am
Was ist das für 1 Look? Ist schon wieder #FashionWeek? #Neukölln #BibiundTina #Leggings #Shorts #Sonnenallee #whynot #grunge #camper Ein Beitrag geteilt von fabian. (@whatthefab) am
#Neukölln, äh. #Bier #WortzumSonntag #WortzujedemTag #DasistkeineFrage Ein Beitrag geteilt von fabian. (@whatthefab) am
Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze lautet: Neukölln ist und bleibt leider ein Drecksloch. Das dämmerte mir immer wieder, wenn ich zur Kita über die Sonnenallee rübermachen musste oder zum Einkaufen zum Kottbusser Damm, das verstand ich nachhaltig an einem einzigen Tag irgendwann im Herbst 2016, als mir die folgenden vier Dinge widerfuhren.
4 willkürliche Begegnungen, die mir an einem Tag Neuköllns wahres Gesicht gezeigt haben:
1. Die Kotze, die wahrscheinlich sogar Durchfall war
Im U-Bahn-Aufzug zur u7 am Hermannplatz. Die war drei Stunden später immer noch da, an einem Sonntag. Ich habe selbst das unvoreingenommene Kid A nicht hingucken lassen wollen.
2. Der Aggro-Vater an der Netto-Supermarktkasse, der sich mit Kassiererin und handgreiflich mit Kunden anlegte
Wegen solcher Männer werden Kriege geführt. Ich musste fast schon vom zuhören heulen, denn:
- Der Idiot hatte seine Kinder dabei. Was soll aus denen werden, wenn solche Aggression und Rhetorik zu ihrem Alltag gehören?
- Was hätte ich gemacht, wenn ich meine Kinder dabei gehabt hätte? Ich will nicht, dass sie sowas sehen und hören. Schlimm genug, wenn sich – leider ganz normal – ihre Eltern manchmal streiten.
- Man kann mit solchen Typen nicht reden. Kein normales Wort. Nichts. Es ist sinnlos, es heizt ihnen nur noch weiter ein. Wenn man mit Besonnenheit und Ruhe und Argumenten nicht mehr weiterkommt, so wie er offenbar noch nie, wie dann? Man muss ans Aufgeben denken und den Glauben an die Menschheit zwangsläufig verlieren.
- Edit: Da kann natürlich das Viertel nichts dafür, Idioten gibt es überall. In manchen Ecken aber in auffälligerer Dichte als anderswo.
3. Die Erinnerung an das, was meine Frau ein paar Wochen vorher am Hermannplatz aufschnappte
4. Fünf Leute ziehen gemeinsam einen Hund aus dem Landwehrkanal…
…der offenbar kurz vorher da reinfiel. Es gibt sie also doch noch, die zwar dramatischen, aber positiven Momente. Aber gut, das war auch auf der Kreuzberger Seite. Die ja bisweilen auch nicht besser ist.
Liebe Neuankömmlinge, lasst es Euch von einem von Euch gesagt sein, ich zog 2010 schließlich selber zu: Manche Straßenzüge in Neukölln nehmen mit ihren Mieterhöhungen, den Cafés und den Kinderwagen vielleicht tatsächlich Prenzlberger Gestalt an. Wegen Euch und uns. Es bleibt aber Neukölln. Ein Stadtteil, der nicht besser oder schlechter als sein Ruf ist. Sondern genauso.
Sonnenallee in Neukölln. Ein „Coffee House“ nennt sich ernsthaft „Sun Avenue“. Mehr Realitätsferne habe ich lange nicht erlebt.
— Fabian Soethof (@soethof) 6. März 2017
Fazit: Neukölln war sieben Jahre lang gut zu uns. Wir blieben, wollten nicht mitgentrifizieren und wieder gehen. In Momenten wie den geschilderten aber wollten wir, meine Frau noch viel mehr als ich, doch nur noch da weg, die Kinder da nicht großziehen. Die Vergangenheitsform dieses Textes hat es bereits verraten: Wir plötzlichen Spießer sind nach langer Wohnungssuche nun tatsächlich umgezogen. Ins immerhin etwas bürgerlichere, lebenswertere, weniger dreckige Kreuzberg 61. Übrigens auch, trotz des nun ach so tollen Rütli-Campus, wegen der Schulen. Aber das ist ein anderes, ungleich schwierigeres Thema.
Kann ich genau so unterschreiben, ohne Wenn und Aber. Wir genießen noch die erste Sommerhälfte hier im Kiez – und ab August sind wir dann richtig spießige Vorstädter.