Ein Ramschfund mit Folgen: Wie plötzlich Andrea Jürgens‘ Trennungshit „Und dabei liebe ich euch beide“ durch unser Kinderzimmer schallte.
Berlin-Kreuzberg, Graefestraße. Ein Samstag im April. Die Mittagssonne kitzelt im Nacken, das erste Eis auf der Zunge. Kid A besucht seine Großeltern, wir genießen ein paar Stunden Ruhe und ahnen nichts Böses. Da, irgendein Verein hat offenbar seinen Restbestand entrümpelt: Auf dem Bürgersteig stehen Kisten und Krams mit dem Hinweis: „Zum Mitnehmen!“ Wir stöbern. Meine Frau findet einen asiatischen Sonnenschirm und einen Glitzerpapagei, ich eine Kiste mit alten Kassetten. Leider nichts Spannendes dabei, bis auf dieses Ding mit der halbnackten Teenagerin auf dem Cover und dem Titel „EUROPA Hitparade 27“. Hätte ich geahnt, welch dunkles Kapitel der deutschen Popmusik hier zutage getragen wird – ich hätte das Tape vermutlich trotzdem mitgenommen.
Die Reihe „EUROPA Hitparade“, soviel lässt eine flüchtige Recherche erahnen, muss sowas wie die „Bravo Hits“ unserer Eltern gewesen sein. Sexismus war noch kein Thema, Schlagermusik schon. Auf der siebten Ausgabe sind zwar so Gassenhauer wie „Heidi“, „Buenos dias, Argentina“ und „Mit 66 Jahren“ drauf, sonst aber ein Potpourri aus fast Vergessenem und 70er-Gemeingut. Ich war milde enttäuscht – bis plötzlich, nach „Das Lied der Schlümpfe“, ein Song ertönte, der mich an allem zweifeln ließ, was ich bis dahin über Kinder zu wissen glaubte: Ein vielleicht elfjähriges Mädchen singt Textzeilen, in denen es offensichtlich um die Trennung ihrer Eltern geht („Sag Vati, warum kann ich denn nicht öfter bei dir sein? Warum geht es nur zweimal im Monat?“) und die in den titelgebenden Refrain „Und dabei liebe ich euch beide“ münden. Ihren Papa darf die Kleine leider nur an Wochenenden sehen, weil ihre böse Frau Mama das nicht anders will. Ein Skandal, den die Nachwuchssängerin nicht versteht, dafür aber ziemlich altklug intonierte Sätze vom Stapel lässt. „Ich bin zu klein um das zu verstehen, doch ich würd‘ uns gern zusammen sehen“, zum Beispiel. Das folgende Video dazu gibt einem den Rest: Wie das Mädchen da 1977 in Rudi Carrells TV-Show „Am laufenden Band“ sitzt und apathisch ihr Kuscheltier streichelt, könnte sie für einen Horrorfilm vorsprechen.
https://www.youtube.com/watch?v=tKOEWDwZ1E8
Nun: Wie sich herausstellt, heißt das Mädchen Andrea Jürgens, stammt aus Wanne-Eickel und war in den Siebzigern ein Kinderstar. Ihr erster Hit „Und dabei liebe ich euch beide“ wurde von Jack White komponiert und von Jon Athan aka Wolfgang Preuß getextet und landete im Januar 1978 auf Platz 4 der deutschen Hitparade. Der Beginn einer Karriere, die bis heute nicht endete: Ihr aktuelles Album „Millionen von Sternen“ veröffentlichte die heute 48-jährige Jürgens im März 2016.
Wäre ich Soziologe oder, äh, Musikjournalist, könnte ich mich jetzt an einer Einordnung versuchen. Dass Scheidungen damals sowohl im Schlager wie auch in der echten, scheinbar heilen Welt ein Tabuthema gewesen sein müssen und wie fragwürdig es ist, ein Kind vorzuschicken, dieses heiße Eisen anzufassen. Und ob es Ironie des Schicksals ist, dass Jürgens sich später selbst von ihrem ersten Mann trennte. Mich beunruhigen aber ganz andere Dinge: Meinem zweieinhalbjährigen Sohn Kid A scheint diese Musik zu gefallen.
Schon beim zweiten Durchlauf saß er da, mit Kassettenspieler auf dem Schoß, so ruhig und andächtig wie noch bei keiner „Alf“-Folge, ach, wie noch nie, und schaukelte andächtig mit dem Kopf hin und her. Der Tanz des kleines Mannes. Findet er etwa Schlager toll? Auch zu Udos „Mit 66 Jahren“ schunkelte er fröhlich mit! Nach kurzem Innehalten und Sinnieren über Kindermusik dachte ich: Ach, was soll’s. In einer Zeit, in der es selbst unter einer Vielzahl von Jugendlichen NICHT als uncool gilt, Helene Fischer zu hören, ist er schlimmstenfalls eben ein Teil seiner gelangweilten Generation. Unwahrscheinlich, dass der Genuss von Schlagermusik heute noch als Gegenteil von konservativ, als Ausbruch größtmöglicher Unangepasstheit durchgeht. Plötzlich wünschte ich mir die guten alten Zeiten zurück, als Kid A noch kleiner war und wir unschuldig Rolf Zuchowski hörten. Da war die Welt noch in Ordnung.
Naja, Hauptsache, unsere Kinder müssen sich niemals im Text von Andrea Jürgens‘ „Und dabei liebe ich euch beide“ wiederfinden.
*Diese Überschrift wurde aus niederen Gründen geringfügig dramatisiert. Zudem handelt es sich beim besprochenen Song natürlich nicht um ein Lied für Kinder, also im eigentlichen Sinne von „Kinderlied“, sondern um ein Lied von einem Kind. Für beziehungsweise gegen seine Eltern.