Wenn beide Eltern in Vollzeit arbeiten

Dass in Familien mit jungen Kindern beide ihrer Erwerbsarbeit in Vollzeit nachgehen, ist in Deutschland die Ausnahme. Wie geht es Kindern und Erwachsenen mit dem Modell? Zwei Familien berichten.

family bonding during quarantine
Home Office mit Kindern – in der Praxis oft weniger idyllisch als in der Theorie und auf Stock-Fotos. (Foto: Elina Fairytale auf Pexels.com)

Die Diskussionen um die Reduzierung des Elterngeld-Haushaltseinkommenshöchstsatz waren noch nicht abgeebbt, da entbrannte eine andere, eigentlich schon ältere Debatte um Familien-Finanzen: SPD-Bundesvorsitzender Lars Klingbeil schlug vor, das Steuermodell des Ehegattensplittings abzuschaffen. Dies begünstigt Konstellationen, in denen ein Partner, in der Regel der Mann, mehr verdient, und der andere, in der Regel die Frau, weniger arbeitet – und damit klassische Rollenverteilungen.

Es gibt Familien, die das so wollen. Weil ein Partner, in der Regel die Frau, nach Geburt eines Kindes wirklich länger zu Hause bleiben will. Oder weil einer von beiden arbeitsunfähig ist und der andere sich allein um Einkommen und Pflege kümmern muss.

Unterm Strich aber ist Frauen mit dem Ehegattensplitting nicht geholfen. Vor allem im Falle einer Trennung nicht, dann hat sie deutlich weniger in die Rentenkasse eingezahlt und ist abhängig von seinen Alimenten. Auch ihre Karriere endet wegen der sogenannten Teilzeitfalle öfter auf dem Abstellgleis als seine.

Manche Familien wollen es gern so, andere müssen es tun

Die Soziologin Jutta Allmendinger fordert deshalb eine 32-Stunden-Woche für alle Arbeitnehmenden, ein Entgegenkommen der Geschlechter: Nicht nur Frauen sollen mehr in Richtung Vollzeit arbeiten können, Männer sollten ihre Stunden auch zunehmend reduzieren.

In Deutschland arbeiteten 2020 bei 67 Prozent aller Eltern mit Kindern unter elf Jahren beide Elternteile – meist aber er in Voll- und sie in Teilzeit. 2018 gingen in 35 Prozent der Paarfamilien mit einem Kind unter drei Jahren beide Eltern einer Erwerbsarbeit nach, nur neun Prozent beide in Vollzeit. Im Osten 19 Prozent, im Westen sieben. Warum tun sie das? Die einen tun es, weil sie müssen. Die anderen, weil sie es wollen. So wie Roman und Anja aus Berlin-Lichtenberg.

Der Gastronom und die Immobilienmaklerin

Schon bevor ihr heute viereinhalb Jahre alter Sohn Paul mit zwölf Monaten in die Kita ging, arbeitete der 34-jährige Roman, gelernter Koch und früher als Küchenleiter angestellt, 40 Stunden pro Woche als Berater in der Gastronomie. Daran änderte er nichts. Außerdem übt er eine nebenberufliche Tätigkeit sowie ein Ehrenamt im Kleingartenverein aus.

Wegen der Kita-Schließungen während der Corona-Pandemie blieb seine Partnerin damals noch daheim, seit August 2021 aber arbeitet sie ebenfalls in Vollzeit als Immobilienmaklerin mit 45 bis 50 Stunden pro Woche. Konkret sieht ihr Alltag so aus: Um sechs Uhr morgens, wenn seine Familie noch schläft, fährt Roman zur Arbeit nach Kreuzberg. Anja bringt ihren Sohn um acht Uhr in die Kita, um danach mit ihrer Arbeit zu beginnen.

Um 15.30 Uhr macht Roman Feierabend, erledigt Einkäufe und erreicht, wenn er gut durchkommt, gegen 16.30 Uhr die Kita, ihr Sohn hat einen Gutschein für erweiterten Bedarf mit mehr als neun Stunden pro Tag. Anja kommt gegen 18.30 Uhr nach Hause. Beide können regelmäßig auch im Home Office arbeiten, jeden Dienstag holen ihre Eltern im Wechsel ihr Enkelkind von der Kita ab. Dann hat Roman Zeit für Sport und andere Hobbys.

Blöde Sprüche hat er von den Erzieher*innen oder anderen Eltern nie gehört. „Unser Modell ist hier im Ortsteil relativ weit verbreitet“, sagt er. Anja hingegen erntete durchaus mal komische Blicke und Anmerkungen. Sie ist selbst so groß geworden wie jetzt ihr Sohn, war immer die erste und letzte in der Kita. Die größte Herausforderung sei es, im Konstrukt aus Terminen und Verpflichtungen Zeit für sich selbst zu finden.

Es drängt sich die Frage auf: Wieso tun sie sich das an? „Wegen unseres Anspruchs“, erklärt Roman. „Wir haben Spaß an unseren Jobs, wollen diesen Lebensstil pflegen, halten ihn für modern und hatten keinen Bock auf die klassische Verteilung, dass der Mann arbeiten geht, die Frau aber nicht. Sie will auch ihr Ding machen, warum sollte sie nicht dürfen?“

Ein zweites Kind würde vielleicht etwas ändern

Dass anstatt Anja als Mutter er als Vater seine Arbeitszeit reduziere, stand dabei nie im Raum, sie hingegen würde bei einem zweiten Kind darüber nachdenken. Das geringere Einkommen würde allerdings ihren aktuellen Lebensstandard gefährden. Fiele ein Gehalt komplett weg, hätte das Paar zwar kein Problem damit, mit weniger auszukommen. „Wir leben zur Miete und lieben gutes und gesundes Essen“, aber Verzicht auf Urlaub und Restaurantbesuche, das müsse ja nicht sein.

Rund läuft trotz oder wegen ihres organisierten Lebens nicht immer alles: „Ich würde meinem Kind gerne mehr geben“, gesteht Roman. Im Alltag sei immer was zu tun, er wünscht sich mehr freie Zeit. Die nehmen sie sich mitunter durch Kurztrips an Wochenenden oder durch den längeren Jahresurlaub. Dieses Jahr waren sie in Bulgarien.

Was Anja und Roman dabei helfen würde, weiterhin das klassische Modell hinter sich zu lassen? Längere Kita-Öffnungszeiten, um noch flexibler arbeiten zu können. Und flexiblere Arbeitgeber: Eine Vier-Tage-Woche bei vollem Gehalt, das wäre Romans Traum.

Dass Mama und Papa so viel arbeiten, störe ihren Sohn bisher nicht, glaubt auch Anja: „Paul sagt am Morgen manchmal: ‚Hol‘ mich heute nicht so spät ab‘. Und wenn man dann am Nachmittag die Kita erreicht, spielt er mit seinen Kumpels und möchte gar nicht los.“ Ein zweites Kind steht auf ihrer Wunschliste trotzdem nicht sehr weit oben, es brächte das aktuelle Familienkonstrukt ins Wanken: „Wir haben uns eingegroovt, stoßen jedoch an unsere Grenzen und sind froh, dass alles funktioniert.“

Vollzeit mit vier Kindern

Bei Sarah aus Hanau sieht das anders aus. Sie und ihr Mann Jens sind Eltern von vier Kindern. Beide arbeiten Vollzeit, sie als Führungskraft im öffentlichen Dienst, er als Schichtleiter Siebdruck und zusätzlich im Schichtsystem. Zuerst war es ein Müssen, sagt sie. 2006 kam ihr erster Sohn zu Welt. Sarah musste ein Jahr darauf wieder arbeiten, weil das heutige Elterngeld erst am 1. Januar 2007 eingeführt wurde. Von der nächsten Schwangerschaft drei Jahre später an lag ihre Erwerbsarbeit brach.

Als ihr jüngster Sohn Ende 2017 zwei Jahre alt wurde, nahm sie ihre jetzige Vollzeitstelle an. Der Kleinste ging von da an ganztags in die Kita.: „Ich bin acht Jahre zuhause geblieben, da ist einiges an finanzieller Verpflichtung aufgelaufen“, sagt sie und meint zum Beispiel Steuernachzahlungen wegen Elterngeld oder der Anschaffung und Unterhaltung eines Autos, in das alle hineinpassen. Die Großeltern leben nicht in der Nähe, sie helfen aber in den Ferien.

Sarah und ihre Familie besitzen ein kleines Reihenhaus, weil Miete mit vier Kindern im Raum Frankfurt kaum machbar sei. Die Kinderbetreuung habe zeitweise bis zu tausend Euro pro Monat gekostet, sagt sie. Mittlerweile sei die doppelte Vollzeit deshalb immer noch ein Müssen, aber auch ein Wollen: „Wir machen beide unsere Arbeit gern, daher wieder der Schichtdienst. So können wir alles, was anfällt, 50/50 aufteilen.“ Außerdem sind ihre Kinder heute 16, zwölf, zehn und sieben und entsprechend selbständiger. 

Sarah ist die Hauptverdienerin, eine Reduzierung ihrer Stunden wäre deshalb nicht tragbar. Würde Jens seine Arbeitszeit reduzieren, kämen sie zwar noch über die Runden, aber „Sparen war all die Jahre nicht möglich, das klappt jetzt lediglich im Rahmen der Altersvorsorge und ginge erst, wenn die letzten Betreuungskosten fallen“.

Dass sie den Totalausfall eines Einkommens nicht stemmen könnten, wurde der Familie bewusst, als Sarah neun Monate erkrankt war. Damals hätten Hausarbeit, Erziehung und Mental Load allein bei ihr gelegen, diese Aufteilung habe eine schwere Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung nach sich gezogen.

Seitdem weiß sie: „Das Pensum auf Dauer macht aber krank, das darf nicht schöngeredet werden. Es ist heute alles besser verteilt, doch der Stress in unserem Modell ist halt wirklich hoch. Uns ist nur klar, dass die finanzielle Angst uns noch schlimmer treffen würde, die hatten wir lange genug.“

Schadet es den Kindern?

Verfechter:innen der klassischen Rollenaufteilung behaupten oft, es schade dem Kind, wenn Mama gerade in den ersten Jahren nicht ständig für es da sei. Mal abgesehen davon, dass sich bei Vollzeit arbeitenden Väter niemand diese Frage stellt: Ist an dieser Behauptung etwas dran?

Die Frage danach, ob es per se gut oder schlecht für Kinder sei, wenn beide Elternteile Vollzeit arbeiten, lasse sich nicht leicht beantworten, sagt Inke Hummel, Pädagogin, Familienbegleiterin, Erziehungsberaterin, Mutter dreier Teenager und Autorin diverser Ratgeber. Herausfordernd daran seien vor allem zwei Aspekte.

Erstens: Ist das Kind in der Betreuung meistens gut aufgehoben? Wird es meistens feinfühlig bei seinen Entwicklungsherausforderungen begleitet? Geht es ihm mit den langen Betreuungszeiten in Anbetracht seines Wesens und seiner Bedürfnisse meistens gut?

Zweitens: Haben die Eltern ausreichend Ressourcen, um Vollzeit-Erwerbsarbeit, Kinderbegleitung und Paarzeit meistens okay genug stemmen zu können? Falls ja, seien sie „happy parents“ und den Kindern ginge es „wahrscheinlich auch eher okay“.

An der Beantwortung dieser Fragen entscheide sich demnach, ob Familie und zwei Erwachsene in Vollzeitarbeit aus pädagogischer Sicht negative Auswirkungen haben, sagt Hummel und relativiert: „Mit dem Begriff ‚meistens‘ meine ich, dass das alles nicht perfekt laufen muss. Kinder und Erwachsene sowie ihre Beziehungen können einiges an Unperfektheit aushalten.“

Eine gute Bezugsperson muss nicht die Mutter sein

In ihren Beratungen erlebt Hummel beide Fälle. Ihr Eindruck: Elternteile, die beide Vollzeit arbeiten, weil sie wollen, sind häufiger bereit, ihre Stunden wieder zu reduzieren, falls ihr Familiensystem doch darunter leide – in der Regel die Frau, teilweise aber auch beide. Wer weniger arbeiten möchte, aber nicht kann, leide sehr – Eltern wie Kinder. Da schaut die Pädagogin und Coachin gemeinsam mit den Betroffenen, welche andere Knöpfchen man drehen könne.

Welche Unterschiede gibt es hinsichtlich des Alters? Kinder brauchten in den ersten sechs Jahre Begleitung bei der sozial-emotionalen Entwicklung und der Emotionsregulation, sagt Hummel. Und zwar durch gute Bezugspersonen, die sie sensibel wahrnehmen: „Das muss nicht die Mutter sein.“ Ihre Einschätzung: Teilweise allein sein, weil ihre Eltern Vollzeit arbeiten, können Kinder ab dem Grundschulalter. Es sollten aber keine fünf Nachmittage pro Woche werden.

Vielleicht sollte als Faustregel für Familienentwürfe wie die von Anja und Roman, Sarah und Jens und allen anderen da draußen gelten: Wichtig ist, dass beide Elternteile sich bewusst und auf Augenhöhe für das Modell entscheiden könnten, das sie unter Berücksichtigung aller Bedürfnisse und Notwendigkeiten für sich und ihre Kinder für richtig und machbar halten.

Und nicht so arbeiten und leben müssen, wie andere es ihnen vorschreiben. Oder weil eine andere Entscheidung kaum möglich ist – etwa wegen der Steuergesetze, der Arbeitgeber:innen oder wegen des persönlichen und gesellschaftlichen Umfelds und der dort verankerten Rollenbilder.

+++ Dieser Text erschien zuerst im August 2023 im „Tagesspiegel“ und auf Tagesspiegel.de. +++

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