Hätte 1975 schon nicht gehen dürfen, darf 2020 erst recht keine Plattform mehr kriegen: In der Softerotikreihe „Emmanuelle“ mag einerseits sexuelle Selbstbestimmung und der offenere Umgang mit Tabus propagiert werden – andererseits wird aber auch Vergewaltigung verharmlost. Ist das Kunst oder kann das weg?
Meine Frau ist lustig. „Ich habe den perfekten Film gefunden, den wir uns gleich angucken können. Du wirst Dich schlapplachen!“, sagt sie, während ich noch in der Küche stehe und gerade die Jungs ins Bett gebracht habe. Ich bin sofort gespannt, schließlich haben wir in der vergangenen Wochen, Monaten, ach was, Jahren Netflix halb leer geglotzt, über Sky nur geflucht, Disney+ ausschließlich für die Kinder abonniert und, aktuell, Amazon Prime Video wegen der (für hervorragend befundenen) Serie „Little Fires Everywhere“ im Probeabo angeschleppt.
Im Wohnzimmer sehe ich eine mir nicht unbekannte Dame auf dem TV-Bildschirm und stelle mit Erstaunen fest: „Emmanuelle 2“ hat es 45 Jahre nach seinem Erscheinen und in Zeiten von YouPorn und Co. tatsächlich und warum auch immer in die Rubrik „Beliebte Filme“ auf Amazon Prime Video geschafft. What The Fuck?! „Mach Dich nicht lustig!“, sage ich sodann zu meiner Frau, „’Emmanuelle‘ habe ich früher heimlich geguckt auf Tele5, Sat.1, RTL oder wo auch immer das lief. Wir Pubertierenden in den frühen Neunzigern hatten damals neben den Dessousmoden im Otto-Katalog und den ’sexy Sportclips‘ auf DSF und Eurosport doch nichts anderes!“ Ich überlege: „Emmanuelle“, das war doch sowas wie „La Boum“ für Lustmolche, oder? Ach nee, das war ja „Eis am Stiel“. Und „Emmanuelle“ galt sicherlich stets als sinnliche Filmkunst – mutmaßlich behauptet von den gleichen Männern, die später den „Playboy“ wegen seiner guten Reportagen lasen.
Wie dem auch sei – der Spaß verging uns schnell tatsächlich: Während der ersten sieben Minuten „Emmanuelle 2 – Garten der Liebe“, in dem die Protagonistin mit dem Schiff von Bangkok nach Hongkong reist, haben wir uns noch beömmelt. Die Dialoge, das schlechte Schauspiel, die Klischees – wir bekamen den Trash, den wir uns davon erhofften. Doch dann, ab ca. Minute 8, das: Weil keine Kabine mehr frei ist, bietet ihr erst ein Mitarbeiter der Crew seine an und küsst sie unvermittelt. Emmanuelle schlägt ihm ins Gesicht und beschwert sich über diesen Übergriff – aber erst, nachdem sie den Kuss mehrere Sekunden lang hinnimmt. Ein Bett findet sie danach in einem Frauenschlafsaal. Eine andere weiße Passagierin vertraut sich Emmanuelle an: Sie könne nicht schlafen, weil sie Angst habe, da sie Opfer einer Vergewaltigung geworden sei.
So weit, so fragwürdig. Was aber dann folgt, gießt Öl ins Feuer von „Sie will es doch auch“-Phantasien potentieller Vergewaltiger: Erst berichtet die Frau, sie sei nicht etwa von einem Mann, sondern von drei anderen Frauen – Asiatinnen, also „exotischen Fremden“ – vergewaltigt worden. Erst habe sie es schlimm gefunden, sagt sie – dann habe sie aber Gefallen daran gefunden. Während sie davon berichtet, sind die geschilderten Softcoreszenen zu sehen. Und darin eben auch, wie die Angst aus dem Gesicht des Opfers der Lust und Leidenschaft weicht. Auch Emmanuelle gefällt, was sie hört: Zunehmend beginnt sie verschämt und angeturnt zu lächeln.
Aufgeregt und angewidert haben wir den Mist ausgemacht. Ob Regisseur Just Jaeckin und die von Sylvia Kristel gespielte Emmanuelle sich also im weiteren Verlauf möglicherweise von diesen zur Schau gestellten Gedanken distanzieren, kann ich nicht abschließend beurteilen. Es täte aber nichts zur Sache, denn: In dem Moment fehlt jede kritische Ebene.
- Wie kann es sein, dass eine derartige Verharmlosung von Vergewaltigung und der damit verbundenen Verhöhnung von Opfern auf Ihrem Streamingdienst gezeigt wird?
- Ist die überaus problematische Szene niemandem aufgefallen? Oder werden Filme und Serien gar ungeprüft lizensiert und ins Programm genommen?
- Und wenn es doch auffiel: Warum entschied man sich trotzdem dafür, den Film zu zeigen? Ist der Missbrauch von Frauen offenbar weniger schlimm, wenn er von Frauen ausgeführt wird? Fällt die Szene Ihrer Meinung nach in den Bereich der Kunstfreiheit und wenn ja, warum?
- Wie planen Sie mit diesem Film in Ihrem Angebot nun umzugehen?
Eine Antwort steht bisher noch aus.
Ich frage deshalb Euch: Übertreibe ich? Sollte der hier geschilderte Schund wirklich unter Kunstfreiheit laufen? So wie wir uns auch Filme über Serientäter, Kindermörder und sonstige moralische Unvertretbarkeiten reinziehen? Ich finde in dem Falle: nein. Erstens, weil es gute Gründe hat, dass zuletzt etwa HBO Max den Südstaatenklassiker „Vom Winde verweht“ (wegen der unkritischen Darstellung von Sklaverei) und BBC und Netflix die Comedyserie „Little Britain“ (wegen Blackfacing) aus dem Programm genommen haben. Und zweitens, weil beim Konsum vom „Tatort“, „Hannibal“ oder „Broadchurch“ die Motive des Täters zwar mitunter beleuchtet werden, dessen Bösartigkeit oder Krankheit aber in der Regel in keiner Sekunde infrage gestellt wird. Selbst beim Bingewatchen des sympathischen Serienmörders „Dexter“ oder dem krebskranken Chemielehrer und Drogenbaron Walter White („Breaking Bad“) wissen wir, dass es kein richtiges Tun im Falschen gibt.
Diese Ebene fehlt bei der beschriebenen Vergewaltigungsszene in „Emmanuelle“ völlig. Übergriffigkeit und Missbrauch wird dort als „eigentlich nicht so schlimm“ dargestellt – and that’s it. Beidseitige Zustimmung gab es nicht, und kein „Nein“ bedeutet nicht gleich ein „Ja“. Dein Körper gehört nur dir allein. So ähnlich würde ich gegenseitiges Einvernehmen, Respekt und gesunde Sexualität eines Tages auch meinen heute noch viel zu jungen Kindern erklären. Nicht, dass die noch Pornos für die Realität oder toxische Männlichkeit für auch nur ansatzweise vertretbar halten werden, wie es ja längst bei anderen Teenagern heute ein ernstzunehmendes Problem ist – und ein anderes Thema.
Uff ich bin ganz auf deiner Seite.
Wie kann man das überhaupt (noch?) zeigen?! schrecklich. Ich bin gespannt, ob du eine Antwort bekommst.