Aufklärung sollte nicht beim Thema Sex und im Biologie-Unterricht anfangen oder aufhören. Mit meinen Kindern wollte ich eigentlich immer so offen, ehrlich und entspannt wie möglich sprechen, um auch die schwierigen Themen nicht allein der Schule oder dem Internet zu überlassen und einen sicheren Ort des Austauschs anzubieten. Und stoße damit an Grenzen. Meine Kolumne fürs Deutsche Schulportal.

+++ Diese Kolumne ist zuerst am 16. September 2024 beim Deutschen Schulportal erschienen +++
Die Ergebnisse einer Langzeitbefragung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sorgten Ende August 2024 für alarmierende Schlagzeilen: „Immer weniger Jugendliche nutzen beim Sex Kondome“, so der Tenor. Und ein Grund mehr dafür, dass Eltern mit ihren Kindern darüber lieber zu früh als zu spät sprechen sollten. Ich finde, damit neben dem Faschismus und Rechtsextremismus der 90er auch im Griff geglaubte Geschlechtskrankheiten sich nicht wieder ausbreiten, von ungewollten Schwangerschaften ganz zu schweigen, darf jedwede Form der Aufklärung nicht allein der Schule oder TikTok überlassen werden.
Nun: Was Sex und Verhütung bedeuten, wissen meine zehn- und achtjährigen Söhne nicht (nur) vom Schulhof oder aus gut gemeinten Aufklärungsbüchern aus der Schulbücherei. Aus so einem Buch brachte einer mal das Wort „bumsen“ mit nach Hause. Aber das soll hier nicht Thema sein. Ich habe mit ihnen gesprochen, nachdem sie sich eines Tages mal wieder kichernd gegenseitig mit Hochzeitsvorschlägen (ich kommentierte: „Niemand muss irgendwen heiraten“) ärgerten und damit, dass der jeweils andere mit einem bestimmten Mädchen „Sex machen“ könne. War kein Ding. Bei zwei anderen, durchaus heikleren Themen bewies ich leider deutlich weniger Feingefühl.
Über schwierige Themen sprechen: Wie viele Details sind okay?
Vor ein paar Monaten entstaubte ich meine alten CDs. Der jüngere Sohn griff zielstrebig zu „Graduation“ von Kanye West. Ich erklärte, dass ich die Musik dieses Rappers einst hart abgefeiert hätte, er heute aber untragbar sei. Wieso, wollte mein Sohn wissen. Fünf Minuten später sprach ich (möglichst detailarm) über Rassismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Adolf Hitler, bis er sich die Ohren zuhielt. Ob aus Schock oder Langeweile, entzieht sich meiner Kenntnis. Dann, vor ein paar Wochen, zitierte der Ältere beim Abendessen einen irgendwo aufgeschnappten Witz über Michael Jackson, den er nicht verstand. Es ging um dessen Nähe zu Kindern, und so landeten wir nach meiner Feststellung, dass der „King of Pop“ fraglos einer der größten Musiker und Performer der Welt war, im Nachhinein zu schnell bei (ebenfalls denkbar detailarm) Pädophilie, Missbrauch, Sex ohne Einvernehmlichkeit, Übergriffigkeit, physischer und psychischer Gewalt und dem Recht am eigenen Körper. Ich finde es wichtig, schon vor ihrer Pubertät mit meinen Söhnen über Grenzen und deren Überschreitungen zu sprechen. Damit sie die für sich und andere erkennen und wissen, dass bestimmte Dinge nicht okay sind. Nachts wurde aber einer von ihnen wach und sagte, er habe Angst: „Wegen dem, was du beim Abendessen erzählt hast, Papa“. Die Auszeichnung als Worst Dad Of The Year nehme ich hiermit ungern entgegen. Wie und wann wohl Pädagoginnen und Pädagogen in Schulen diesen Teil der Realität thematisieren? In welcher Dringlichkeit und Detailtiefe sie wohl in den Klassen vor möglichen Absichten von Männern warnen, zum Beispiel vor dem, der vor unserer Grundschule vor einem Jahr mit Handschuhen Süßigkeiten aus einem Kastenwagen heraus verteilte?
Als der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine begann, standen Eltern schon einmal vor dem Dilemma, mit ihren Kindern über plötzlich sehr präsente, kinderunfreundliche Szenarien sprechen zu müssen, obwohl sie eigentlich gar nicht wollten. Damals fragte ich die Pädagogin und Erziehungsberaterin Inke Hummel, wie ich mit meinen Kindern altersgerecht über Krieg sprechen könne. Teile ihrer Antwort, so denke ich, treffen auch auf andere Themen zu. Sie sagte: „Man landet schnell bei der Ungeheuerlichkeit, die man selbst fühlt und nicht erklären kann: Warum geht es nicht anders? Hier darf man sehr ehrlich sein und auch sagen, dass man selbst vielleicht keine Antworten hat. Auf geäußerte Ängste hingegen sollte man klarer, bestärkend und schutzgebend reagieren. ‚Du musst keine Angst haben‘ spricht einem Kind sein Gefühl ab, was nicht empfehlenswert ist. Schaut stattdessen die Ängste gemeinsam an: Wie realistisch sind sie? Was kann helfen? Was kann man tun? Was sollte man lassen? Zum Beispiel sollte man unseriöse Quellen meiden. (…) Sprich: Kinder sollten sich nicht ausgeliefert fühlen, sondern aktiv und beschützt – so sehr es geht. Die beste Hilfe sind sicher extra auf die Kleinen abgestimmte Kindernachrichten.“
Man muss als Eltern nicht alles alleine wuppen – auch nicht die Aufklärung
Zwar finde ich immer noch, dass meine Kinder, anders als ich, bestimmte Dinge lieber von ihren Eltern als nur auf dem Schulhof oder aus den Medien erfahren sollten. Sich im Zweifel aber begleitend auf Fachleute zu verlassen – Stichwort Kindernachrichten –, halte ich auch aus eigener Erfahrung für einen guten Rat. Manchmal bin ich nämlich überrascht, was meine Kinder schon wissen. Der Zehnjährige, der sich eigentlich nur für Comics interessiert, hat zum Beispiel eine Fachkenntnis über Weltreligionen, die meine kleine um ein Weites übersteigt. Woher? Sein Lehrer, erklärte er mir, hieß „Checker Tobi“ Krell. Was mir wiederum einmal mehr beweist, was ich als Ex-Schüler und heutiger Vater schon wusste und mir von Sinnfluencerin Caroline von St. Ange anschaulich bestätigt wurde: Es kommt nur auf die richtige Art der Wissensvermittlung an. Und da ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen – den pädagogischen Teil einer Lehramtsausbildung fand ich eigentlich schon immer wichtiger als den rein inhaltlichen – zunehmend Mangelware werden, stelle ich mich für die Zukunft lieber besonders darauf ein, meinen Pre-Teenies Dinge zu erklären, die ich nicht mit meiner Wissenslücken-Standardantwort „googeln wir das doch mal“ abtun kann, möchte und sollte. Da habe ich zwar noch viel zu lernen, so wie ich seit unserem Michael-Jackson-Gespräch weiß, dass man selbst reifen Kindern nicht die ganze Wahrheit über den Zustand unserer Welt in ihre noch vergleichsweise heile flüstern sollte. Kann ich aber immerhin besser als Mathe.