Symptome behandeln, Ursachen benennen: Coachin und Buchautorin Caroline von St. Ange weiß, wie Schülerinnen und Schüler nachhaltiger lernen könnten und woran dies oft scheitert. Doch nicht nur dieses Dilemma birgt Frust für mich, der ich als Vater zweier Grundschulkinder eigentlich ein Fan der „Sinnfluencerin“ bin.
+++ Diese Kolumne ist zuerst am 23. Oktober 2023 beim Deutschen Schulportal unter der Überschrift „Hört dieser Frau zu! Sie weiß, wovon Ihr sprechen solltet!“ erschienen. Mein Interview mit Caroline von St. Ange selbst erschien in gekürzter Version am 3. November 2023 im „Tagesspiegel“ und danach in längerer Version, jeweils unter der Headline „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch!“, hier auf meinem Blog. +++
Die Älteren unter uns erinnern sich: Während der Lockdowns und Schulschließungen als Maßnahmen gegen die Coronapandemie gingen Eltern von Kita- oder Schulkindern ganz besonders auf dem Zahnfleisch. Plötzlich sollten sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Homeoffice sein, sich um ihre eigenen Eltern sorgen, ohne sie zu treffen, und zeitgleich ihre Kinder im sogenannten Homeschooling betreuen.
Wer sich darüber aufregte, bekam in den Kommentarspalten der Social Media mitunter Gegenwind: „Da sollst du dich einmal um dein eigenes Kind kümmern, und schon beschwerst du dich?“ Nein, Mechthild, wir beschwerten uns nicht darüber. Wir wollten und konnten nur nicht alles gleichzeitig leisten. Mütter und Väter, die keine ausgebildeten pädagogischen Lehrkräfte sind, mussten aushilfsweise welche sein. Von vielen Schulen erfuhren sie – abseits von Videokonferenzen, Arbeitsblättern und Aufgaben in Apps – nicht viel Unterstützung.
Vom Himmel über der schmorenden Hölle fiel zunehmend vielen dieser Eltern dafür Caroline von St. Ange engelsgleich in die Instagram-Timeline.
Lerntipps, die Eltern sehnlichst brauchen
Caroline von St. Ange ist Nachhilfelehrerin, Coachin, Beraterin, Autorin und selbst ernannte „Sinnfluencerin“. Seinerzeit folgten ihr auf Instagram nicht mehr als ein paar Dutzend Follower. Sie hatte schon aufgeben wollen, als ein großer Account sie teilte. Von dort an ging es steil bergauf. Heute – drei Jahre und ein Buch später – folgen ihr 214.000 User.
Wie und womit sie das geschafft hat? In einer unglaublich besonnenen, ruhigen und freundlichen Art gab und gibt sie in kurzen Videos regelmäßig Lerntipps, die Eltern bei der Hausaufgabenbetreuung sehnlichst brauchten und noch immer brauchen. Zum Beispiel: Ewig lang erscheinende Aufgabenblätter in Puzzleteile zerschneiden und das Kind ein Teil nach dem anderen erledigen lassen. Fehler nicht als solche, sondern mit einer „Schau noch mal hin“-Lupe zu kennzeichnen, aus der mit ein paar Strichen eine Sonne gemalt werden kann. Oder das Kind seine Aufgaben am Ort seiner Wahl erledigen zu lassen, ob am Küchentisch, unter dem Bett oder auf dem Schrank. Kleine Dinge von mitunter großer Wirkung.
„Alles ist schwer, bevor es leicht ist“
Wer ihrem Kanal @learnlearning.withcaroline folgt oder ihr im August 2023 erschienenes Buch „Alles ist schwer, bevor es leicht ist“ liest, erlebt aber auch über Alltagstipps hinaus zahlreiche Aha-Momente und Denkanstöße. Warum zum Beispiel motivieren wir Kinder beim Laufenlernen wie selbstverständlich immer wieder (weil wir wissen, dass es irgendwann klappen wird!), während wir bei Mathe nach dem dritten Versuch mit den Augen rollen, weil das Kind es immer noch nicht kapiert hat? Weshalb benennen wir öfter das Falsche anstatt das Richtige? Wieso stärken wir nicht die Stärken der Kinder statt deren Schwächen? Wer glaubt ernsthaft noch, dass Schülerinnen und Schüler im Gleichschritt und mit stigmatisierenden Noten nachhaltiger lernen würden als mit individualisierten Lernräumen und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit? Ist es nicht „schlauer“, einem Kind bei richtig gelösten Aufgaben nicht Schlauheit oder Intelligenz zu attestieren, sondern dessen Bemühen wertzuschätzen?
„Fixed Mindset“ versus „Growth Mindset“
Caroline von St. Anges Kernforderung gegenüber Eltern, Lehrpersonal und Schulleitungen liegt im Verständnis der Unterschiede zwischen sogenannten „Fixed Mindsets“ und „Growth Mindsets“. Diese Begriffe gehen auf Studien der Stanford-Psychologin Carol Dweck zurück und bedeuten, dass unser Gehirn sich bis ins hohe Alter verändern und neu lernen kann. Wer stets zu hören bekommt und auch sich selbst sagt, er oder sie sei schlecht in Mathe, ist es demnach eines Tages wirklich. Sagt ein Kind „Ich kann das nicht!“, so sollten wir ihm stets entgegnen: „Du kannst das NOCH nicht!“ In Interviews zitiert von St. Ange dazu gern den Schauspieler Sabin Tambrea, der auf die Frage, ob er reiten könne, mal geantwortet haben soll: „Ja. Ich muss es nur noch lernen.“
Als Vater zweier Kinder im Grundschulalter war ich einerseits sofort Fan von St. Ange, als sie mir auf Instagram begegnete. Andererseits kam während der Lektüre ihres Buchs in mir auch Frust auf. Erstens weiß und glaube ich, dass es trotz aller Tipps genug Kinder gibt, die dafür und für jedes noch so intrinsisch gemeinte Motivationsargument nicht empfänglich sind. Sie haben einfach keinen Bock. Und zweitens denke ich noch immer: Ich will, obwohl ich – anders, als viele andere, weniger privilegierte Eltern – könnte, mit den Hausaufgaben meines Kindes nichts zu tun haben! Nachmittags um 16 Uhr sind wir alle müde und wollen was Schönes Gemeinsames erleben.
Es darf nicht sein, dass Eltern mich oder mein Buch brauchen.
Caroline von St. Ange, Autorin und „Sinnfluencerin“
Auch von St. Ange sagt: Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch. Und keine Hausaufgabe sei es wert, die Beziehung zum eigenen Kind aufs Spiel zu setzen. Ist das nicht ein Widerspruch? Die Sinnfluencerin weiß selbst, dass sie im Grunde zwei Jobs hat: „Einerseits finde ich Lösungen und Symptombehandlungen für ein krankes System. Andererseits deute ich auf dieses System immer wieder hin“, sagt sie. „Es darf nicht sein, dass Eltern mich oder mein Buch brauchen.“
Bildung muss Spaß machen – und kostet!
Gerade hier, in einer Deutsches-Schulportal-Kolumne, sind folgende ihrer Worte wichtig zu erwähnen: Obwohl es schwarze Schafe gebe, die, sagt Caroline von St. Ange, noch immer und nicht nur wegen veralteter Lehrpläne wie vor 50 Jahren unterrichteten – frontal, mit Arbeitsblättern, ohne Beachtung der individuellen Stärken und Tempi der Kinder –, macht sie den Großteil der Lehrkräfte selbst nicht dafür verantwortlich, dass sie nicht das leisten können, was sie sollten und oft ja auch wollen. Sie hat viele Fans unter ihnen, die sie auf Elternabenden weiterempfehlen. Woran es wirklich fehle, das seien Schulleitungen und Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker, die erkennen, dass Schule nicht nur wieder Spaß machen muss und – obwohl man mit dem Thema leider keine Wahlen gewinne – dass Bildung kostet.
100 Milliarden Euro würden mindestens für eine wirkliche Veränderung gebraucht, weil allein 49 Milliarden in marode Gebäude und fehlende Digitalisierung gesteckt werden müssten. Jeder heute investierte Euro, so ihr Argument, müsse nicht in 20 Jahren mehrfach in Form von Sozialleistungen ausgegeben werden. Dass Investitionen fehlten, trotz der Tatsache, dass 2,5 Millionen junge Menschen in Deutschland ohne Berufsabschluss dastünden und es gleichzeitig an 430.000 Fachkräften mangele, ist ein Armutszeugnis für den aktuellen Bildungsstandort Deutschland.
Wer nun, wie ich, St. Anges Theorien wertschätzt, praktisch aber noch weit davon entfernt ist, dass Hausaufgaben ein Kinderspiel werden, dem möchte ich ein Zitat der Familienberaterin Ulla Richter mit auf den Weg geben, das sich in Teilen mit den Aussagen von Caroline von St. Ange deckt und hier mitlesenden Lehrenden eventuell weniger gefällt: Dass Kinder zum Beispiel Mathe brauchen, um im Leben glücklich zu werden, sei nichts weiter ein Glaubenssatz. Die Schule trainiere uns auf Mittelmaß. Wenn ich als Elternteil mit den Hausaufgaben meiner Kinder nichts zu tun haben will, weil sie den Hausfrieden stören, dann sollte ich es auch lassen. Hausaufgaben seien eine Vereinbarung zwischen Lehrern und Schülern, sagt Richter: „Wenn der Lehrer es nicht schafft, die Kinder zu motivieren, diese Hausaufgaben zu machen, dann würde ich nicht meine Beziehung zu den Kindern aufs Spiel setzen, um den Job des Lehrers nachzuarbeiten.“