Gefährliche TikTok-Trends: Wie wir mit Mutproben und Unmenschlichkeiten umgehen könnten

Auf TikTok kursieren nicht nur lustige Tanzvideos. Sondern neben Pranks und sogenannten „Challenges“ auch Fake News, Sexismus und Hetze. Ich bin eigentlich zu alt für den Scheiß, argumentierte hier aber auch mir selbst gegenüber, warum es Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und damit auch Schulkindern nicht hilft, über die Kritik am aktuell größten digitalen Treffpunkt ihrer Generation hin­weg­zu­sehen.

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Es gibt leider gute Gründe, warum Eltern den Anschluss an die Mediennutzung nicht verlieren sollten (Photo by cottonbro studio on Pexels.com)

+++ Diese Kolumne ist zuerst am 12. Juni 2024 beim Deutschen Schulportal erschienen +++

Am Abend des 23. April 2024 wandte sich Berlins Bildungs­senatorin Katharina Günther-Wünsch in einem dringlichen Ton an die Schul­leitungen und Kollegien der Hauptstadt. Ähnlich war es in anderen Bundesländern und Städten. Laut einem Schreiben, das der Direktor der Grundschule meines achtjährigen Sohnes sogleich an die Elternschaft weiter­leitete, sah die Bildungs­senatorin sich offensichtlich unter Zugzwang, über einen „verstörenden“ TikTok-Trend zu informieren – den sogenannten „National Rape Day“. Demnach kursierten auf TikTok Ermutigungen, „junge Frauen und Mädchen ohne ihre Zustimmung anzufassen und zu belästigen“. Am 24. April läge auf diese Handlungen scheinbar Straf­freiheit vor, Konsequenzen seien keine zu befürchten. Diese Behauptung, eine ja ganz offensichtliche Falsch­meldung, halte sich jedoch auch in Schul-Chats hartnäckig, so Günther-Wünsch, „auch weil sie von den sozialen Medien nicht als solche gekennzeichnet wird. (…) Für Kinder und Jugendliche, die diese Falsch­meldungen lesen, kann es schwierig sein, den Wahrheits­gehalt der Inhalte einzuschätzen. Sie können verunsichert und verängstigt reagieren. Es besteht zudem die Gefahr, diesen Aufforderungen nachzugehen und entsprechende Handlungen auszuführen.“

TikTok „disrupted“ Wahlkampf, Musik­industrie, Medien­konsum

Ich stutzte. Zunächst nicht ob des tatsächlich verstörenden Inhalts über einen „Vergewaltigungs­tag“. Nein, ich als heute 42-jähriger Vater und Journalist, der selbst mal ein Schüler war, empfand es im ersten Reflex als fast ebenso verstörend, dass der Senat es offenbar für nötig hält, vor einer Art digitalem Ketten­brief zu warnen, dessen nichtigen Wahrheits­gehalt doch selbst ein Blinder mit einem Krückstock – wie wir früher sagten –, oder „safe“ – wie man heute sagt – erkennen müsste. Macht man damit, Stichwort „Streisand-Effekt“, eine Sache nicht größer und sichtbarer, als sie ist? Und unter­schätzt man damit nicht die Medien­mündigkeit der Generation Z und Alpha?

Im Falle TikTok lautet die Antwort: leider nein. Allein in Deutschland nutzen die in China entwickelte und betriebene App laut eigenen Angaben monatlich rund 20,9 Millionen Menschen, schon 2022 antworteten 55,7 Prozent der befragten 14- bis 19-Jährigen, sie „mindestens zum Ansehen von Inhalten zu nutzen“. TikTok verändert nicht nur die Art, wie unter 20-Jährige sich informieren, swipen, konsumieren, selbst wahrnehmen, darstellen und Fremd­darstellungen wahrnehmen. TikTok hat auch die Musik­industrie und den Wahlkampf nachhaltig „disrupted“: Songs, deren Snippets dort viral gehen, landen (wieder) in den Charts. Und Parteien, die dort mit sogenanntem Ragebait Populismus bedienen, feiern mindestens quantitative Erfolge, über die andere Parteien nur staunen und gewarnt sein können. Keine Rundmail eines Politikers oder einer Politikerin erreicht also mehr Menschen, als es TikTok längst tut. Der Unterschied: Sie zeigen dadurch, dass sie die Lebensrealitäten von Teenagern ernst nehmen – und auch klassische Medien reagieren darauf.

Jugendliche (und Erwachsene) waren schon immer gleich dumm. Die Reichweite solcher Trends ist heute aber eine ungleich größere.

Ein paar Tage später kursierten Schlagzeilen über eine sogenannte „Ohnmachts-Challenge“, bei der Schülerinnen und Schüler sich gegen­seitig den Brustkorb zudrücken, bis sie kurz das Bewusstsein verlieren und bei der schon Kinder starben. Meine erste Reaktion war hier ähnlich: Schlimm, aber ey, so einen Scheiß haben wir früher auch schon gemacht! Damit möchte ich die Gefahr solcher Mutproben nicht herunter­spielen. Sondern zu Protokoll geben: Jugendliche (und Erwachsene) waren schon immer gleich dumm. Die Reichweite solcher Trends ist heute aber eine ungleich größere.

Fast ein Drittel der TikTok-Challenges sind potenziell schädlich

Eine von der Ludwig-Maximilians-Universität München im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW durch­geführte Studie fand heraus, dass TikTok-nutzende Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 16 Jahren regelmäßig auf Inhalte stoßen, die bei ihnen Unwohlsein hervorrufen. Eine Mehrheit gab an, „dass Videos bei ihnen Ekel erzeugten. Mehr als die Hälfte sprach von „Inhalten, in denen andere absichtlich verletzt wurden“. Knapp 40 Prozent begegnet extremistisches Gedanken­gut. Laut den Forschenden der LMU seien 30 Prozent der TikTok-Challenges potenziell schädlich, ein Prozent sogar potenziell tödlich. Sie warnten laut dpa, dass TikTok potenziell gesundheits­gefährdene Challenges wenig bis gar nicht reguliere und diese sich somit schnell verbreiten könnten.

Auf der diesjährigen Digitalkonferenz re:publica in Berlin sowie der dort integrierten Jugend­konferenz TINCON war TikTok deshalb auch immer wieder ein Thema mit der Kern­frage: Dort, wo die Kids sind, müssten wir doch auch hin, oder? Also, nicht ich als Vater, der als peinlicher Idiot-Dad das Kind vor seiner Peergroup bloßstellt – das werde ich auf den ersten Partys meiner Söhne schon noch früh genug tun. Aber Stimmen, die über Rassismus, Gewalt, oder Sexismus aufklären, sowie demokratische Parteien und deren Politikerinnen und Politiker, die der AfD dort nicht das Feld überlassen wollen. Bundes­kanzler Olaf Scholz und Wirtschafts­minister Robert Habeck zum Beispiel haben dort seit geraumer Zeit eigene Accounts. Ferda Ataman hingegen warnte als unabhängige Bundes­beauftragte für Anti­diskriminierung in einer Rede vor diesem Schritt: Behörden würden die Gefahren der Plattform dadurch verharmlosen und suggerieren, hier sei daten­schutz­rechtlich und regulatorisch alles okay. Ist es nicht. Auch Berlins Kultur­senator Joe Chialo erklärte im Gespräch mit Rapjournalist Rooz, dass er Forderungen nach einem TikTok-Verbot zumindest nachvollziehen könne. TikTok selbst bietet etwa einen Leitfaden für Erziehungsberechtigte an und warb auf der re:publica an einem Stand unter anderem mit Handouts zu Themen wie „Schutz der Integrität bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2024“, einem „Beitrag zur Förderung von Transparenz bei KI-generierten Inhalten“ und „Sicherheit und Datenschutz für Teenager auf TikTok“. Wir sehen: Ein Nerv ist längst nicht mehr „nur“ unter Lehrkräften und Eltern getroffen.

Neben Mitmenschlichkeit und digitaler Mündigkeit führt kein Weg daran vorbei, von klein auf Medien­kompetenz zu schulen. Und damit meine ich aus­drücklich auch die eigene, damit man sich nie – wie ich – zu alt für den Scheiß vorkommt.

Und jetzt? Warnen, sprechen, ernst nehmen!

Und nachdem wir all das wissen: Wie sollen wir als Eltern, wie sollen Lehrerinnen und Lehrer und Schul­leitungen vor, während und nach der nächsten TikTok-Challenge reagieren? Verbote von Smartphones in Schulen – deren Nutzung ja grundsätzlich Fluch und Segen bedeutet, wie Lehrerin Ulrike Ammermann in ihrer Kolumne argumentierte – verlagern das Problem ins Private, lösen es aber nicht. Ich finde: Neben Mitmenschlichkeit und digitaler Mündigkeit führt kein Weg daran vorbei, von klein auf Medien­kompetenz zu schulen. Und damit meine ich ausdrücklich auch die eigene, damit man sich nie – wie ich – zu alt für den Scheiß vorkommt. So anstrengend das ist. Und bis dahin gilt leider: warnen, wie es etwa Senatorin Günther-Wünsch tat, ja. Im Gespräch bleiben. Ernst nehmen. Nicht nur stumpf verbieten. Mitgucken und -reden. Zum Glück ist TikTok bei meinen Kindern noch kein Ding.

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