Das gelobte Land

Raus aus der Enge, rein ins Idyll – seit Jahren wächst in Landgemeinden die Einwohnerzahl. Doch nicht alle Dörfer profitieren davon. Auszug aus meinem „Tagesspiegel“-Text über Familien, die die Städte verlassen.

In Dierfeld ist die Welt noch in Ordnung. Mit neun Ein­wohner:innen ist die Ort­schaft im Landkreis Bern­ kastel­-Wittlich in der Eifel die kleinste Gemeinde Deutsch­lands, und das auf den ersten Blick konstant: 2011 zählte das Statisti­sche Bundesamt zehn Einwohne­r:innen, 2017 ebenfalls. Zwischen 1830 und 1971 variierten die Zahlen zwischen acht und 45, sie beruhten auf Volkszählungen. Auf den zweiten Blick bedeutete zum Beispiel der Umzug nur einer Person einen Schwund von mehr als zehn Prozent. Dass viele dort miteinander verwandt sind, ist kein Wunder: Dierfeld besteht aus dem Hofgut einer Familie sowie ihren Mitarbeitenden, durch die die Ausländerquote übrigens bei mehr als 50 Prozent liegt. Repräsentativ für die inländischen Mi­grationsbewegungen ist Dierfeld damit nicht.

Ob Köln, Leipzig, Hamburg, Frankfurt oder Dresden: Der Grad der Urbanisierung nahm in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ständig zu. Immer mehr Menschen zogen in Städte, immer weniger zogen von dort weg. Zwischen 2000 und 2020 war Potsdam die Stadt, die mit 40,8 Prozent mehr als alle anderen in Deutschland an Bevölkerung ge­wann, dahinter Landshut, Mün­chen und Regensburg. Die höchste Leerstandsquote da­gegen verzeichnete im Jahr 2020 Sachsen-­Anhalt mit 8,1 Prozent vor Sachsen, Thüringen und Mecklenburg­-Vorpommern, die geringsten dagegen Hamburg, Berlin und Bayern.

In den alten Bundesländern lockten Studium, Jobs und kultu­relle Angebote. Die bis heute teil­weise leeren Häuser in Dörfern der neuen Bundesländer wurden nach der Wiedervereinigung mas­senhaft von jungen Menschen ver­lassen, die von Berlin und dem Westen Deutschlands angezogen wurden. Allein Mecklenburg­-Vor­pommern verlor mehr als 400.000 Bürger:innen und gewinnt sie seit 2014 nur marginal wieder zurück.

Als Verlierer stehen oft die Orte da, die nicht derart klein und über­ schaubar sind wie Dierfeld, aber auch nicht groß genug sind, um ei­ne Infrastruktur an Dienstleistun­gen zu gewährleisten, die Arbeit­nehmenden oder ­-suchenden sowie jungen Menschen bietet, was sie brauchen und wollen. Wer selbst vom Land kommt, kennt das: Spä­testens, als das örtliche Kino, die Disco und jedes zweite Geschäft am Marktplatz schloss, fanden auch die größten Lokalpatrioten die Nachbarstädte plötzlich weni­ger verachtenswert. Sie zogen weg – wenn sie konnten.

Man braucht Zeit für ein Haus im Grünen. Und Geld

Gegenwärtig aber befindet sich Deutschland in einer Zäsur. Der Höhepunkt des Trends zur Land­flucht scheint überschritten. Laut einer Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) erlebten deutsche Großstädte durch mehr Wegzüge und weniger Zuzüge im Jahr 2021 den stärksten Bevölkerungsverlust seit 30 Jah­ren. Vermutlich nicht zufällig im zweiten Jahr der Corona­-Pande­mie, von deren anfänglichen Ge­genmaßnahmen Stadtmenschen ohne Gärten und mit geschlosse­nen Theatern und Konzerthäu­sern besonders betroffen waren.

Schon seit 2017 aber verzeichne­ten zwei Drittel aller Landgemein­den einen spürbaren Zuzug. Ein „anhaltender und verstärkter Trend zur Suburbanisierung in Deutschland“ sei zu beobachten, der – dies ist ein wichtiger Unter­schied – jedoch nicht bedeute, dass die meisten Großstädte schrumpften. Sie verlieren durch Binnenwanderung, wachsen aber im Verhältnis zur Gesamtbevölke­rung, zum Beispiel wegen interna­tionaler Zu­- und Abwanderung und demografischen Faktoren wie Geburten­ und Sterberaten.

Die Geschichte der Suburbani­sierung findet ihren Ursprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn der Industrialisie­rung. Damals wuchsen europäi­sche und US­-amerikanische Groß­städte zunehmend – und mit ihnen auch Villenvororte oder soge­nannte Gartenstädte. Die massenhafte Suburbanisie­rung in den USA, die durch Ver­breitung des Autos und nach dem Zweiten Weltkrieg fortschritt, gilt deshalb als Wohlstandsphäno­men. 1939 etwa sollen 13 Prozent der US­-Amerikaner im sogenann­ten „Suburbia“, in Vorstädten, ge­lebt haben, 2010 waren es mehr als 50 Prozent. Erzählungen über diese Orte sind durch Serien wie „Desperate Housewives“ und „Big Little Lies“, Filme wie „American Beauty“ und „Suburbicon“ oder Platten wie „The Suburbs“ von Arcade Fire längst Teil der Popkultur geworden.

Heute und in Deutschland ist die Bewegung raus aufs Land offenbar wieder ein Wohlstandsphänomen: Dorthin ziehen überwiegend Fa­milien, die Zeit und Geld für ein Haus im Grünen und die damit verbundene Arbeit haben.

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