In ihrem Buch »„Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!“: 25 Bullshitsätze und wie wir sie endlich zerlegen« räumt die Journalistin und Instagrammerin Alexandra Zykunov sauer, eindrucksvoll und auch witzig mit überholt gehörten Sätzen zum Thema Gleichberechtigung auf. Für mein Buch »Väter können das auch!« sprach ich mit ihr darüber. Hier daraus als Leseprobe die ungekürzte und aktualisierte Version meines Kapitels »Meanwhile in der Gegenwart«.
Wir essen weniger oder gar kein Fleisch mehr. Wir kaufen im Biomarkt ein. Wir verzichten auf große Autos und Flugreisen. Wir vermeiden Plastik. Wir teilen uns die Eltern- und Betreuungszeiten anders auf als unsere Eltern. Wir setzen uns für Gleichberechtigung ein, wir wollen unsere Kinder anders erziehen. Kurzum: Wir leben doch schon so modern, oder? Von wegen.
Eine werdende Mutter hat ein schlechtes Gewissen, die vereinbarte Beförderung anzunehmen, weil ihr Arbeitgeber noch nicht von ihrer Schwangerschaft weiß. Ein Vater wird nach Rückkehr in seinen Job degradiert, weil er länger als zwei Monate Elternzeit nahm. Die Stadt Paris musste im Dezember 2020 90.000 Euro Bußgeld zahlen, weil das Ministerium für öffentliche Verwaltung Männer diskriminiert sah: Sie seien zu nur 31 Prozent vertreten.
Solche und etliche weitere Beispiele sammelt und teilt die Journalistin Alexandra Zykunov unter den Hashtags #MeanwhileImJahr2019, #MeanwhileimJahr2020 und so weiter auf ihrem Instagram-Account. Zykunov ist 36, Redakteurin beim Frauenmagazin »Brigitte« und lebt mit ihrem Freund und zwei Kindern in Hamburg. Im Februar 2022 ist ihr Buch »Wir sind doch alle längst gleichberechtigt! 25 Bullshitsätze und wie wir sie endlich zerlegen« (Affiliate Link) erschienen. Themen wie (fehlende) Gleichberechtigung, Elterndiskriminierung, Rollenbilder und Mental Load hat sie sich auf die Fahnen geschrieben – und sie ist anhaltend sauer. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie ihre Wut auf Politiker*innen und das Patriarchat nicht in einem Post oder einer Story mit ihren über 33.000 Followern teilt und den Finger in Wunden legt, von denen vielen Männern, aber auch Frauen gar nicht unbedingt bewusst war, wie sehr sie klaffen.
Welchen Ungerechtigkeiten Frauen und Mütter grundsätzlich, besonders aber im Vergleich zu Männern und Vätern ausgesetzt sind, wurde Zykunov erst Monate nach Geburt ihres Kindes bewusst. Anfangs lief es gut, erinnert sie sich in einem Videogespräch mit mir. Ihr Freund habe selbstverständlich seinen Teil übernommen und sich außer in den Stillnächten in jeder freien Minute um das Baby gekümmert. Als Lehrer war er täglich meist um 16 Uhr zuhause, oft sogar früher, und ging danach mit ihm spazieren, auch die Abende übernahm er, damit seine Freundin für die nächste durchgemachte Nacht vorschlafen kann. Aber eben: Er ging arbeiten, sie blieb daheim. Alle paar Wochen fuhr Zykunov mit Baby für ein Wochenende zu ihren Eltern. Er hatte frei in dieser Zeit. Als sie sich nach dem Abstillen selbst ein Wochenende allein erlauben und ihr Glück kaum fassen konnte, endlich einmal wieder selbstbestimmt über ihren Tagesablauf entscheiden und Sätze zu Ende denken und sprechen zu können, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: »Ey, Du hast im vergangenen Jahr immer wieder solche Wochenenden gehabt!«, sagte sie nach Rückkehr zu ihrem Freund, »ich hatte das nie!«
»Was, Du willst als Mutter Vollzeit arbeiten?«
Diese Erkenntnis innerhalb einer eigentlich ja schon modern gelebten Beziehung öffnete Zykunov die Augen für weitere Ungerechtigkeiten. Nach dem ersten Jahr in Elternzeit ging sie in Teilzeit zurück an ihren Schreibtisch, nach dem zweiten Geburtstag ihres Sohnes in Vollzeit – und kriegte Sprüche zu hören wie: »Krass, Vollzeit? Dein Kind ist doch erst 2? Ich würde mich das ja nicht trauen!« bis hin zu »Kriegst Du von Deinem Kind überhaupt genug mit?« Sie beschwichtigte, dass sie ja nicht allein sei, nicht bis 21 Uhr arbeite und, da sie und ihr Freund nicht in komplett prekären Berufen arbeiteten, ihren Alltag mit Gesprächen geregelt kriegten. Gleichzeitig wurmte sie, dass nur ihr solche Fragen gestellt wurden: »Mein Freund ist drei Tage nach der Geburt wieder Vollzeit in die Schule marschiert. Darüber hat sich niemand gewundert! Ich als Frau hätte als die schlechteste Mutter des Planeten dagestanden. Für Väter stellt sich die Frage gar nicht.«
Dass immer mehr Väter Elternzeit nehmen und immer mehr Mütter immerhin in Teilzeit (anstatt gar nicht) erwerbsarbeiten, wertet Zykunov nicht wirklich als Fortschritt: »Ich würde es nicht als Erfolg feiern wollen, dass nun rund die Hälfte der Bevölkerung trotz Kind arbeiten geht, während der Mann selbstverständlich arbeiten geht. Das ist doch absurd, dass wir sowas überhaupt feiern müssen, es sollte selbstverständlich sein!“ Sie findet: Die Veränderung dieser Schieflage sollte keine individuelle Aufgabe der Frauen und Männer sein, die Bewusstmachung der Problematik aber sehr wohl: »Viele Männer wissen das schon längst, verstecken sich aber hinter der eigenen Sozialisation, wenn sie sagen: ‚Meine Frau macht das besser. Mein Vater hat sich auch nie bemüht‘, und so weiter. So ist es bequem für sie.« Zykunovs Freund berichtet ihr jedes Wochenende, wie voll die Spielplätze mit Daddys seien. Ein gutes Zeichen? Nein, weil dies auch bedeute, dass diese Väter wahrscheinlich nur am Wochenende mit ihren Kindern rausgingen. »An einem Mittwoch um 15 Uhr sind nur Mütter da. Diese Diskrepanz ist sichtbar. Sie entsteht nicht nur durch individuelle Entscheidungen der Eltern. Die Politik müsste dort viel mehr lenken.«
Warum Elternzeit für Väter normal werden muss
Inwiefern die Politik eingreifen und lenken kann und soll, frage ich sie. Zykunov erklärt: Die Einführung von Elternzeit und der zwei zusätzlich finanzierten Extramonate, wenn der Partner auch Elternzeit nimmt, seien richtig und wichtig. Sie sollten aber auf vier oder sechs Monate erhöht werden. Warum passiert das nicht? »Die Probleme fangen in den Wirtschaftsbetrieben an. Da sitzen die alten weißen Männer, die Martins, Stefans und Thomasse, die in einer Zeit aufwuchsen, in der Mama selbstverständlich zuhause war. Ihre Frauen taten es ihnen gleich. Bei denen muss ankommen, dass Elternzeit für Väter normal wird und sie nicht schikaniert werden. Gesetze müssen dahingehend verändert werden, dass Mütter und Väter nicht mehr diskriminiert werden, wenn sie Eltern werden.« Es sei ein Fakt, dass Arbeitnehmer*innen aufgrund ihrer Elternschaft im Job benachteiligt werden, sagt Zykunov und führt neben Beispielen ihrer Hashtagreihe die von der Anwältin Sandra Runge ins Leben gerufene Initiative »Pro Parents« an, die Elternschaft als Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankern lassen will. »Der Vater hat Angst, seinen Job zu verlieren, weil sein Chef ein Arsch ist. Weil seine Frau zudem oft eh weniger verdient, landen sie beim klassischen Modell. Ehegattensplitting, ein Steuerrecht, das die Einverdiener-Ehe begünstigt – das sind die Drehscheiben, die neben individuellen Entscheidungen verändert werden müssen. Eltern allein werden das System nicht kippen können.«
Im Weg steht Eltern unter anderem die spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie offensichtlich gewordene, traurige Wahrheit, dass sie keine Lobby haben. Warum nicht? Schließlich sprechen wir hier doch auch von rund 20 Millionen Arbeitnehmer*innen! Zykunov glaubt: »Es tut der Wirtschaft nicht weh, wenn Schulen und Kitas dicht gemacht werden. Es wird zuerst über die Öffnung von Außengastros und Hotels debattiert, während Kinder teilweise seit Monaten ihre Schule nicht von innen gesehen haben. Kinder wählen nicht. Ihre Eltern schon, werden aber nicht bedacht. Wenn in Betrieben wie bei Tönnies Corona ausbricht, wird nicht der Betrieb dicht gemacht, sondern die umliegenden Schulen. Das kostet am wenigsten Geld.« Vielen Politiker*innen sei anscheinend egal ist, dass heutige Kinder auch mal Wähler*innen werden, »weil sie selbst bis dahin in Rente oder tot sind. Der Bundestag ist so männlich wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Wenn du dort keine jungen Eltern, von anders Marginalisierten ganz zu schweigen, hast, können und wollen diese Politiker*innen sich nicht in diese Gesellschaftsschichten hineinversetzen. Obwohl sie auch sie repräsentieren sollten. Hättest du Familien, Eltern und junge Menschen auf dem Zettel und in deinen Reihen, würden viele Entscheidungen ganz anders getroffen werden.«
Eltern haben keine Zeit für Lobbyarbeit
Es gibt noch mindestens zwei weitere Gründe, warum Eltern keine Lobby haben: »Wann zur Hölle sollen Eltern die Zeit finden, sich zusammenzutun?«, fragt Zykunov rhetorisch aus eigener Erfahrung als Arbeitnehmerin und Mutter heraus. Was wir ferner alle in den vergangenen zwei Jahren gelernt haben: Eltern können nicht konkret und unmittelbar mit Millionenschäden drohen, wie zum Beispiel eine Fußball-Bundesliga. Oder mit Entzug von Spendengeldern.
Was Eltern dafür selbst in einem ersten Schritt tun könnten und sollten, weiß Zykunov zum Glück auch: »Ich wünsche mir, dass Frauen erkennen, dass das System sie benachteiligt. Danach müssen sie mit ihrem Partner darüber reden. Darüber, dass sie weniger verdienen. Dass sie viel mehr Care-Arbeit übernehmen. Das wird Streit bedeuten. Bitte streitet euch. Besprecht diese Themen«, und weiß gleichzeitig, dass selbst diese Forderung extrem privilegiert ist. Streit ist ein Schritt, den viele sich nicht trauen. »Jede dritte Frau hat in ihrem Leben schon eine gewaltvolle Partnerschaft erlebt. Wenn du in einer Situation häuslicher Gewalt steckst, dein Mann ein Choleriker ist und du finanziell von ihm abhängig bist, ist meine Forderung nach Streit im Grunde unmöglich. Ich habe schon Nachrichten von Frauen bekommen, die schrieben: „Wenn ich meinem Mann gesagt hätte, er soll den Geschirrspüler öfter ein- und ausräumen, hätte er mich grün und blau geprügelt.“«
Gerade wegen scheinbar aussichtslosen Lagen wie dieser sieht Zykunov privilegierte, klassisch aufgeteilte Elternpaare in der Pflicht: »Geht mit Euren und Gesprächen und Streitigkeiten für die Menschen voran, die diese Möglichkeiten nicht haben. Weil kein Partner da ist oder ein ganz schlimmer. Oder weil kein Job da ist.« Auch sie selbst musste ihre eigenen Privilegien erst erkennen. Je lauter sie auf Social Media für mehr Gleichberechtigung trommelte, desto öfter wurde Zykunov vorgeworfen, einen so genannten white girl boss feminism zu betreiben – also in erster Linie Akademiker*innen betreffende Probleme zu thematisieren, die einerseits ernstzunehmen sein mögen, andererseits anders Marginalisierte mit ganz anderen Alltags-, Erziehungs- und Arbeitsmarktproblemen ausschließen würden. Seitdem schult Zykunov ihren Algorithmus um, um zumindest ein Stück weit aus ihrer wohl situierten Blase hinausschauen zu können: »Ich folge Accounts auf Instagram, die viel inklusiver sind als ich. Die Inhalte von Women of Color posten, von Alleinerziehenden, von Frauen und Kindern mit Behinderung. Ich like ihre Bilder, kommentiere und teile sie und sehe so nach und nach mehr von anderen Lebenswelten auch in meinem Feed. Das klingt vielleicht schräg, aber so komme ich tatsächlich aus meiner Blase, ich lerne von diesen klugen Frauen unfassbar viel, ich bilde mich weiter, höre zu, lerne und reflektiere mich seitdem völlig anders. Natürlich mache ich dabei immer noch Fehler, aber ich will sie nicht mehr machen, also versuche ich von anderen Lebenswelten so viel wie möglich mitzukriegen und das dann wiederum an meine Community weiterzugeben.«
Der Penis muss nicht immer zuerst dran sein
Zum Abschluss unseres Gesprächs stelle ich Zykunov noch zwei Fragen: 1. Ist wirkliche Gleichberechtigung jemals möglich, Alexandra? »Warum nicht?«, antwortet sie. »Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass der mit dem Penis immer voran gehen und die mit der Vulva immer weiter hinten laufen müsse. Zumal es den feministischen Spruch gibt: „Seid froh, dass wir nur Gleichberechtigung wollen und keine Wiedergutmachung dessen, was alles passierte.“ Dann herrschte die nächsten fünftausend Jahre Matriarchat. Das will ja auch niemand. Gleichberechtigung kann doch nicht so schwer sein! Ich hoffe sehr, wir erleben die spürbare Veränderung noch.« 2. Apropos: Wie viel Gleichberechtigung werden wir in welchem Zeitraum noch erleben, Alexandra? » Mich frustet eine Studie, die besagt, dass die feministische Welle, die nun auch außerhalb von Instabubbles in der realen Welt angekommen ist, drei Generationen braucht, bis sie Früchte trägt. Das sind 80 oder 90 Jahre! Wenn ich Pech habe, erlebe ich nicht mehr, wie meine Enkelin selbstverständlich in Vollzeit arbeitet und ihr Freund seine Stunden reduziert. Ich hoffe, dass der Wandel durch die Globalisierung von Social Media schneller voranschreitet. Ich würde die Früchte meines eigenen Aktivismus gerne noch selbst ernten können.«
»Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!: 25 Bullshitsätze und wie wir sie endlich zerlegen | Eine wütende Abrechnung mit dem Patriarchat, die jede Frau lesen sollte« von Alexandra Zykunov ist am 24. Februar bei Ullstein erschienen. Es umfasst 224 Seiten, kostet 10,99 Euro und ist entweder hier (Affiliate Link) oder bei Eurem Lieblingsbuchladen zu kaufen.
Mein Buch »Väter können das auch!«, in dem auch dieses Kapitel hier in gekürzter Form steht, ist am 21. März 2022 im Kösel-Verlag / Penguin Random House Verlagsgruppe erschienen und ebenfalls bei Amazon (Affiliate Link, gerne bewerten und rezensieren) oder bei einem Buchhandel Eurer Wahl bestellbar.