Eine unvollständige Liste meiner männlichen Privilegien

Am 21. März 2022 ist mein Buch „Väter können das auch!“ erschienen. Ein Kapitel konntet Ihr im Vorfeld bereits exklusiv auf LittleYears.de lesen – und jetzt auch auszugsweise hier.

Auf LittleYears.de lest Ihr das folgende Kapitel in ganzer Länge – oder direkt in meinem neuen Buch.

»Es ist ganz einfach, dachte ich etwa fünf Wochen vorher und stand am offenen Fenster, ich will ein Mann sein. (…) Ich wollte nicht aussehen wie der Mann, der ich sein wollte. Aber die Möglichkeit aufzustehen, mich nicht zuständig zu fühlen und weiterzugehen, diese Möglichkeit wollte ich besitzen, für immer.«

Mit diesen Sätzen beginnt die Autorin und Journalistin Antonia Baum ihr Buch »Stillleben« (Affiliate Link). Ein Buch, das sie nie schreiben wollte, weil es schon so viele Bücher über die unmögliche Vereinbarkeit von Kindern und eigenem Leben gebe. Ihre Situation als Mutter eines Babys, die weiterhin arbeiten und gleichberechtigt leben will, aber an ihrem neuen Alltag verzweifelt, ließ sie schließlich umdenken.

In »Stillleben« schreibt Baum so realistisch wie bedrückend über »die Angst, als Mutter unsichtbar zu werden«. Die 1984 geborene studierte Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin lebte ein privilegiertes Leben, eines, über das andere gemeinhin urteilen würden, es gebe keinen Grund zur Beschwerde. Sie hatte einen Job bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Redakteurin, veröffentlichte Romane und wohnte mit ihrem Freund in Berlin. Die Wohnung in einem sogenannten Problemkiez hatten sie sich bewusst ausgesucht. Sie sei nicht nur günstig, sondern ihre Lage auch so schön urban und außerhalb ihrer eigentlichen Blasen. Trotzdem stimmte etwas nicht: Je öfter und länger Baum mit ihrem Kind zu Hause blieb, während ihr Freund arbeiten ging, desto unzufriedener wurde sie. Wie passte dieses Gefühl mit der Behauptung zusammen, dass Mutterwerden trotz Stress und Schlaflosigkeit einer absoluten Erfüllung gleiche?

Wie Baum ging und geht es vielen Müttern. Nur sprechen nicht alle darüber. Es hieße zuzugeben, dass mit dem Nachwuchs nicht alles rosarot ist. Dass sie bei gleichzeitiger geistiger Unterforderung körperlich absolut überfordert sind. Dass das Ich auf der Strecke bleibt. All diese widersprüchlichen Erwartungen, die heute an moderne Mütter herangetragen werden – »Sei bei deinem Kind!«, »Geh arbeiten!«, »Denk an dich!«, »Sei selbstloser!«, »Lass mal locker!« – wie sollen die zu erfüllen sein, ohne sich selbst zu vergessen oder gar kaputtzumachen?

Väter leiden in der Regel nicht unter einem derartigen Druck. Klar, auch sie sollen bitte schön anwesend sein, im Job was reißen und sich um die Kinder kümmern. Aber sie lebten nicht schon vor ihrer Vaterschaft unter einer solchen Last der gegensätzlichen Ansprüche: Wer hat jemals einen Mann Ende zwanzig gefragt, ob und wann er denn Kinder bekommen wolle? Oder einen Mann Ende dreißig, ob es denn nicht mal langsam Zeit sei für die Familienplanung? Und wie er das bloß mit seiner Karriere vereinbart? (Weiße Cis-)Männer sind in unserer patriarchalisch aufgebauten westlichen Gesellschaft privilegierter als Frauen, von Gruppen mit anderen Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Merkmalen wie Hautfarbe oder Herkunft ganz zu schweigen. Die männlichen Privilegien – also die Vorteile, die so der Norm entsprechen, dass man sich nicht dafür rechtfertigen muss und sich dessen noch nicht mal bewusst ist – bleiben, wenn ihre Träger Väter werden. Der folgende Satz aus Jacinta Nandis Buch »Die schlechteste Hausfrau der Welt« über das moderne männliche Privileg bringt es auf den Punkt: »Männer gehen nicht arbeiten, damit Frauen zu Hause bleiben können. Frauen bleiben zu Hause, damit Männer arbeiten gehen können/dürfen.«

Auch mein Lebensweg hat sich seit der ersten Schwangerschaft meiner Frau nicht um 180 Grad gewendet. Nicht wenden müssen. Klar, Elternzeit, Teilzeit, der Kampf, den Mann so kämpfen kann, um sich vorzumachen, man hätte überhaupt mal für irgendwas wirklich kämpfen müssen. Aber unterm Strich kam mir alles irgendwie entgegen. Ich kann das machen, wovon Antonia Baum tagträumt: Ich kann einfach gehen, wenn ich nicht mehr will. Konnte ich immer schon, habe ich oft auch gemacht. Ins Büro. In die sozialen Medien. In den Biergarten. In ein Hostel. Zu Freunden. Mütter können das nicht. Nicht nur während der Stillmonate – sondern über Jahre, weil von ihnen ein Stillleben erwartet wird.

Bleiben wir bei der Arbeit: Meine erste Festanstellung nach der Uni kriegte ich über eine Bekannte, die zweite über einen Freund. Klar habe ich mich beworben und Gespräche geführt, aber die halbe Miete war durch Vitamin B schon bezahlt. Und ich war halt ein Kerl Ende zwanzig/Anfang dreißig. Der macht das schon. Dass ich bald Kinder kriegen könnte, galt entweder nicht als Arbeitsausfall-Risiko – oder es wurde gedacht: ›Ach, die zwei Monate Elternzeit überbrücken wir schon.‹ Wenn ich heute als Vierzigjähriger meinen Job verlieren oder kündigen würde?  Würden schlimmstenfalls ein paar Monate der Orientierung beziehungsweise des Klinkenputzens bei alten Kontakten anstehen. Ich weiß, dass ich einen neuen Job finden würde. Weil ich ein Mann bin, bei dem auch im Jahr 2022 niemand daran denkt, dass der sich auch um seine kranken Kinder kümmern müsste oder vielleicht noch eines bekommt und dann auch länger als zwei Wochen bis zwei Monate ausfällt. Weil ich angeblich weniger Risiko bedeute. Weil Männer seltener als »zu alt« gelten. Und weil bei mir, egal wie viele Kinder ich habe, nie eine Lücke im Lebenslauf klaffte.

Was bei Männern in der Regel kein Problem darstellt, ist bei Frauen leider meist noch immer eines. Neulich erzählte mir eine Freundin von einem misslungenen Bewerbungsgespräch bei einem vermeintlich fortschrittlichen Arbeitgeber. Der Personalchef arbeitete seine Fragen ab, bis er plötzlich die folgende stellte: »Sie arbeiteten sechs Jahre in einer Firma, ganz schön lang. War da Elternzeit mit bei?« WTF: Nicht nur, dass die Frage grundsätzlich ein No-Go ist – als Mann würde ich das nie gefragt werden!

Solche eigentlich unglaublichen Fragen werden fast jeden Tag gestellt. In Interviews mit Frauen, in Bewerbungsgesprächen mit Frauen, im gut gemeinten Small Talk. So häufig, dass die Agenturgründerin, Unternehmerin, Aufsichtsrätin, Speakerin und Digitalexpertin Fränzi Kühne ein Buch darüber geschrieben hat. Für »Was Männer nie gefragt werden« (Affiliate Link) hat sie genau das getan: Männern Fragen gestellt, die sonst nur Frauen zu hören kriegen. Fragen wie »Herr Maas, Sie tragen meist Anzug und Krawatte – das ist Standard in der Politik, oder?« und »Herr Rach, Sie sind ein bekannter Koch und Kochbuch-Autor. Können Sie für andere Männer ein Vorbild sein?«. Der YouTuber und Handwerker Fynn Kliemann bringt die Absurdität dieser Erfahrung wie folgt auf den Punkt: »Fränzi hat mich eingeschüchtert, verunsichert und beleidigt. Bis ich verstanden habe, dass ihr exakt diese Fragen gestellt wurden. Unfassbar.«

Die Unverhältnismäßigkeit dessen, was Frauen im Vergleich zu Männern so alles gefragt werden, gipfelte vorerst in dem Tag im April 2021, an dem die Grünen Annalena Baerbock als ihre Kanzlerkandidatin vorstellten. »Kinder und Kanzleramt – lässt sich das vereinbaren?«, fragte etwa die Tagesschau. Im Gegensatz zu einigen anderen journalistischen Formaten zum Glück nur rhetorisch, um Baerbock anschließend als Role Model zu zeigen und weitere positive Beispiele wie Neuseelands Regierungschefin Jacinda Ardern anzuführen.

Bei Robert Habeck wäre seine Familie kein Thema gewesen, auch Markus Söder und Armin Laschet wurden nie danach gefragt, wie sie Kinder und Karriere vereinbaren. Der Journalist Lorenz Meyer spitzte das Missverhältnis in einem Tweet zu: »Medienleute, die Annalena Baerbock fragen, ob sich Kinder und Kanzlerschaft vereinen lassen, sollten sich zuerst fragen, ob sich Journalismus und ein Weltbild aus dem Mittelalter vereinbaren lassen.«

(…)

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