Autorin Sandra Winkler im Interview über ihre elterliche und journalistische Motivation, ein „Kinderverstehbuch“ zu schreiben, über ihre gewonnenen Erkenntnisse, entspannte Kinder und darüber, warum unsere Geschlechterrollen in den ersten Jahren der biologischen Grundlage entbehren.
Die Journalistin, Autorin und zweifache Mutter Sandra Winkler hat ein Buch geschrieben, das sie selbst gerne gelesen hätte. Es geht nicht um Philosophie oder Astronomie, und doch behandelt es ganz große Fragen der Menschheit, auf die es gefühlt keine einfachen Antworten gibt: „Warum lieben Kinder es, Knöpfe zu drücken?“ „Warum trödeln sie so sehr?“ „Warum haben sie ganz plötzlich Angst vor Fremden?“ Warum verstecken sie sich so gern – und sind trotzdem so verdammt schlecht darin?“
Um doch Antworten zu finden, versammelt Winkler Erkenntnisse aus Psychologie, Entwicklungspädiatrie und Neurologie und hat diverse Expert*innen um Rat gebeten. „Das Kinderverstehbuch – Alles über Schnullerwerfer, Gemüseverweigerer und Matratzenhüpfer“ ist im März 2020 im dtv-Verlag erschienen und elternfreundlich konsumierbar: 40 Kapitel mit je einer Frage gibt es und keine Antwort dauert länger als zehn kleine Seiten. Danach hat man nicht immer ein Patentrezept in der Hand, aber ein Gefühl der Entspannung im Kopf. Weil es für jedes Verhalten zumindest mehr oder weniger rationale Erklärungen gibt und weil fast alle Eltern das gleiche erleben. Nur wie man dann praktisch mit den neu gewonnenen Erkenntnissen umgeht, bleibt mitunter ein Rätsel. Denn Tipps und Ratschläge wollte Winkler nicht geben. Eigentlich.
Sandra, Dein Buch richtet sich an Eltern von Kindern zwischen 0 und 6 Jahren. Deine Töchter sind…
Sandra Winkler: …6 und 10. Ich habe mich geärgert, dass ich das Buch so spät geschrieben habe. Viele Sachen hätte ich gerne früher gewusst. Dann hätte ich besser begriffen, was in meinem Kind gerade abgeht – und hätte vieles besser ausgehalten und nicht so problematisiert.
Du bist also durch Dein Buch eine bessere oder zumindest schlauere Mutter geworden?
Ich bin eine schlauere Mutter. Ob auch eine bessere, müssen meine Kinder beurteilen. Auf jeden Fall eine verständnisvollere. Mit dem Thema Trödelei zum Beispiel hatte ich sehr gekämpft. Ich bin ein strukturierter, schneller Mensch. Es gibt Eltern, die mit trödelnden Kindern besser umgehen können. Die finden mit ihnen ein gemeinsames Energielevel und den gleichen Takt. Ich habe immer gehetzt. Termine, Freunde treffen, zack zack zack. Jetzt habe ich gelernt: Kinder haben keine Zeitvorstellung. Sie sehen eine Strecke nicht von A nach B. Der Weg ist ein großes Abenteuer, sie wollen Expeditionen machen. Sie können noch nicht fokussieren. Und sie wollen dich nicht ärgern.
Wie Malte Welding einst schrieb: Sie wollen dir nichts Böses, sie wollen nur für sich das Beste. Diese Erkenntnis hilft aber nur theoretisch. In der Praxis bleiben ja die Termine.
Der Verlag und ich wollten keinen Ratgeber herausbringen. Wir wollen niemandem sagen, wie man was machen muss. Am Ende der Hälfte aller Kapitel dachte ich trotzdem: Was mache ich denn jetzt? Dann habe ich das doch aufgeschrieben. Bleiben wir beim Trödelbeispiel: Ein Hirnforscher erklärte mir, dass Kinder Stress haben bei Situationswechseln. Sie kommen nicht hinterher. Gerade spielten sie noch mit den Puppen, und jetzt sollen sie sich die Hose anziehen und das Haus verlassen. Das ist ihnen oft zu plötzlich. Ein super Tipp dabei wäre: Situationswechsel frühzeitig ankündigen. Und ihnen was mitgeben. Die eine Puppe zum Beispiel mitnehmen lassen, mit der sie gerade noch spielten.
Oder nach Playdates etwas ausleihen. Welcher brennendsten Frage wolltest Du zuerst auf die Schliche gehen?
Das erste Kapitel, das ich unbedingt schreiben wollte, war: Warum wollen Kinder immer das gleiche essen? Das trieb mich um. Mir ist wichtig, dass Kinder sich gesund ernähren. Ich mache mir einen Rote-Beete-Salat, die Kinder wollen Nudeln. Und auch immer nur die hellen, bloß kein Vollkorn!
Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.
Genau das ist die Begründung. Sie haben eine Phobie gegen Sachen, die sie nicht kennen. Evolutionsbedingt. Sie könnten ja daran sterben. Süßes, Energiereiches und Kalorienhaltiges wollen sie, weil sie wirklich einen erhöhten Energiebedarf haben. Sie wachsen. Das ist schon das richtige Essen für sie. Es macht einen Erwachsenen aber fertig, der lieber auch mal was Gesundes essen möchte.
Und doppelt Kochen will man auch nicht.
Machen wir leider.
Und wenn man fünfmal Brokkoli hinstellt, der nicht gegessen wird, macht man beim sechsten Mal doch wieder Nudeln.
Es gibt Untersuchungen darüber, wie oft man einem Kind Lebensmittel anbieten muss, bis es sie irgendwann isst und nicht mehr so schlimm findet. Immer wieder hinstellen, durchhalten, anbieten, voressen, am besten auch von einem Geschwisterkind. Aber nie zwingen!
Hast Du auch Kinder befragt?
Meine eigenen. Und andere Eltern und mit deren Erlaubnis ihre Kinder. Bringt inhaltlich aber nicht so viel, weil die noch nicht so reflektiert sind. Worauf ich keine wissenschaftliche Antwort fand, war die Frage: Warum pflücken Kinder so gerne Blumen? Dazu fragte ich Kinder.
Bei welcher Antwort warst Du völlig überrascht, weil sie ganz anders als gedacht war?
In einem Kapitel geht es darum, warum Kinder Bauklötze immer wieder aufbauen und danach umwerfen. Ich dachte, die mögen einfach den Krach und überprüfen die Wirksamkeit ihres Handelns. Dann musste ich lachen: Ein von mir interviewter Professor und sein Team beobachteten spielende Kinder und ihre Eltern aus einem Nebenraum heraus. Sie stellten fest: Es ist nicht nur Lust, Bauten umzuschmeißen. Wenn Eltern für ihre Kinder einen Turm aufbauen, werfen die ihn oft aus Frust um. Weil sie so genervt sind. Bestimmte Sachen können sie erst ab einem bestimmten Alter. Sie hauen Türme dann um, weil sie wütend sind, dass sie ihn selbst noch nicht bauen können. Das hat mich überrascht.
Noch was anderes?
Früher sagte man sinngemäß: Babys sind dumm. Die können nichts und müssen erstmal schlau werden. In der Säuglingsforschung gibt es aber Erkenntnisse, die besagen, dass Babys schon kleine Wissenschaftler sind. Dass sie Statistiken verstehen und aufstellen. Warum werfen sie immer wieder ihren Schnuller runter? Das nervt so! Mir wurde erklärt: Kinder sind wie kleine Marsmenschen. Auf der Erde gelandet ohne Ahnung, was hier passiert. Sie werfen eine Gurke runter, die verschwinden könnte, platzen oder zu Matsch werden. Das testen sie 200-mal, um zu sehen, ob das Ergebnis wirklich immer das gleiche ist oder nicht. Vielleicht fragen sie sich: „Funktioniert die Erdanziehung heute immer noch?“ Eine süße Vorstellung. Wir Erwachsenen gehen noch immer viel zu oft von uns aus.
Wenn Eltern nur eine Antwort lesen müssten, welche wäre das? Welche ist die erkenntnisreichste?
Ich glaube, die aus dem Wutkapitel. Wut und Langeweile sind auch die Themen, die mich am meisten umtrieben, als meine Kinder kleiner waren. Ich konnte mich selbst nicht leiden, wenn ich mich aufregte, weil die Kinder wütend waren. Ich bin doch eigentlich ein netter Mensch, dachte ich.
Und Langeweile?
Ich finde es unmöglich, wenn Menschen Langeweile haben. Dafür ist die Lebenszeit zu kurz. Deshalb ärgerte es mich, wenn meine Kinder über Langeweile klagten. Das kann doch wohl nicht angehen, dachte ich. Ich versuchte dann, sie zu bespaßen. Das Kapitel half mir zu akzeptieren, dass das einfach manchmal so ist.
Diverse Ratgeber tragen bereits im Titel Claims wie „Tiefenentspannt durch den Alltag“. Entspannung scheint heutzutage DAS Thema für Eltern und Kinder zu sein. Ein Problem unserer Zeit?
Unsere Leistungsorientiertheit spiegelt sich auch in der Kindererziehung wider. Wir wollen, dass alles flutscht und läuft und schnell geht. Langeweile? Beschäftige dich einfach, ich habe gerade Besseres zu tun! Weil wir selbst so unentspannt sind, stoßen Welten aufeinander. Kinder sind in der Regel entspannt. Sie haben keine Zeitvorstellung und keinen Druck. Wir haben Termine, sie haben ein Leben. Ich finde auch diese Achtsamkeitsbücher für Kinder schwierig. Kinder brauchen keine Achtsamkeit, die sind sowieso achtsam. Die können sich stundenlang einen Marienkäfer anschauen. Warum sollen wir denen Achtsamkeit beibringen? Bizarr.
Da geht es doch eher darum, dass die Eltern achtsam sein sollen.
Ja genau, die Eltern sollten achtsam sein. Aber es gibt jetzt auch Tagebücher für Kinder, damit sie lernen, mit ihrem Leben achtsam umzugehen. Skurril. Wir brauchen mehr Erdung, Entspannung und Ruhe. Dann gehen wir auch besser mit unseren Kindern um, weil wir dann nicht mehr wollen, dass sie so funktionieren, wie wir es gerade brauchen.
Du sagst also: Wenn die Eltern entspannt sind, sind die Kinder entspannt, und nicht umgekehrt.
Ja, Kinder sind entspannt. Nur nicht, wenn sie gerade ihren Wutanfall haben. Die kommen zum Glück nicht rund um die Uhr!
Hätten wir keine Termine, hätten wir alle weniger Stress. Gleichzeitig bereitet das ja wohl oder übel auch auf das spätere Leben vor: Auch Kinder werden eines Tages Termine haben. Woher kommt der heutige Stress abseits von Terminen? Weil die sogenannten Clans fehlen, weil berufstätige Eltern gerade in Großstädten selten viel Familie um sich haben? Oder weil die Rollenaufteilung noch nicht modern genug ist? Würde uns noch mehr Gleichberechtigung nicht auch Stress ersparen?
(seufzt) Wenn zwei Erwachsene Kinder haben, beide arbeiten und stressige Jobs haben, dann sind beide Eltern immer leicht angespannt. Zumindest geht es mir so. Mein Freund hat eine eigene Firma. Ich finde schon, dass das Verlangen, dass beide arbeiten und Kinder haben wollen, ein Problem ist. Aber ich würde meinen Job nie aufgeben, ich liebe den ja auch. Ob das Probleme macht? Ja, ich glaube schon. Wäre ich den ganzen Tag zuhause, wäre ich wahrscheinlich ein bisschen entspannter, als wenn ich auch noch arbeiten müsste. Auf der anderen Seite bringt es auch zu viele Nachteile, wenn nur einer arbeitet und der andere das ganze Leben mit den Kindern hat. Das wiegt sich auf. Wenn man nur zuhause hängt und der andere geht arbeiten, läuft man Gefahr, sich auseinanderzuleben. Es gefällt mir auch nicht, wenn einer alleine für das Einkommen der Familie zuständig ist. Das macht ihm oder ihr auch Stress und er oder sie verliert die eigenen Kinder aus den Augen. Also: Ich finde die Konstellation gut, dass beide arbeiten. Aber sie bringt sicherlich Stress mit sich.
Es ist doch ein Trugschluss, dass man ohne Arbeit und mehr Zeit für die Kinder entspannter wäre. Bei aller Liebe: Wenn du 24/7 nichts anderes machst als Kinderbetreuung, und das machen ja noch immer sehr viele Frauen gerade in den ersten Lebensmonaten ihrer Babys so, wirst du doch irgendwann bekloppt. Dir fällt die Decke auf den Kopf. Du bist einerseits überlastet, andererseits geistig unterfordert. Weil du nichts anderes machst. So ist es doch aus verschiedenen Gründen wichtig, dass die Frau wieder schnell ans Arbeiten kommt.
Als Paar fehlen dir auch irgendwann die gemeinsamen Themen, wenn der eine abends nach Hause kommt und der andere den ganzen Tag mit einem oder mehreren Kindern zuhause ist. Der eine kann dann nur von gewechselten Windeln erzählen, der andere von gehaltenen Präsentationen. Das passt auch nicht. Wir haben unsere Kinder früh in die Kita gegeben, mit zehn bzw. zwölf Monaten. Ich habe auch davor viel gearbeitet. Trotzdem: Hätte ich keine Abgaben, wäre ich nachsichtiger mit meinen Kindern.
Zur potentiellen Leserschaft Deines Buches: Wahrscheinlich lesen es am Ende überwiegend Frauen, oder?
Ich hoffe nicht!
Ich auch nicht, aber ich merke es auf meinem Blog oder im Umfeld, wenn man versucht, Väterthemen zu positionieren. Am Ende reden nur die Mütter mit. Gut, Instagram ist in der Elternbubble eh überwiegend weiblich. Aber auch abseits dessen lesen Väter weniger über Familienthemen und interessieren sich mutmaßlich weniger. So ging es mir auch und ich gebe zu, dass es mir teilweise noch immer so geht.
Dieses Buch ist eigentlich auch für Väter wie gemacht. Ohne Klischees aufgreifen zu wollen: Ich kann mir vorstellen, dass Väter weniger Bock auf belehrende Bücher haben. Sie wollen sich weniger einlesen, um Dinge zu verstehen. Diesen Ansatz hat mein Buch zum Glück nicht, es kommt über die humorige Seite. Es soll ein Lesespaß mit Anekdoten sein. Ein Kapitel wie „Warum Jungs Bob der Baumeister mögen“ könnte gerade etwas für sie sein, für große Jungs. Oder „Warum Kinder so gerne popeln“.
Du dankst in Deinem Buch einem Arzt für die „Aufklärung des Testosteronmißverständnis“. Was meinst Du damit?
Ich hatte mich erstmal in die jeweiligen Themen eingelesen. Zum Kapitel „Warum sind Jungs immer so wild?“ hatte ich verschiedene Artikel gelesen, und immer ging es darum, dass Jungs in einem gewissen Alter so wild werden würden, weil sie einen Testosteroneinschuss hätten. Dann seien die Werte viel höher als bei den Mädchen. Bis ich irgendwann las, das stimme gar nicht. Plötzlich war ich aufgeschmissen. Wen frage ich denn jetzt? Bis mir jemand diesen Arzt, ein Endokrinologe, empfahl. Der konnte mir haarklein erklären, dass die zitierten Gründe ganz großer Quatsch sind. Es wird immer wieder geschrieben, aber es stimmt nicht, dass kleine Jungs vor der Pubertät einen höheren Testosterongehalt haben. Nur im ersten Lebensjahr gibt es bei Jungen einen Hormonsturm als Spätfolge der Ausprägung der Geschlechtshormone im Mutterleib.…
…und zur Pubertät, nehme ich an.
Genau. Dann ändert sich vieles. Bis dahin sind sie auch körperlich den Mädchen nicht überlegen. Es ist Quatsch, in der ersten Klasse zu sagen: „Ich brauche mal ein paar starke Jungs, die den Tisch tragen.“ Die Mädchen sind genau so stark! Später sind Jungs den Mädchen überlegen, weil sie größer werden und mehr Muskelmasse aufbauen. Bis zur Pubertät aber sind alle gleich. Deswegen ist es Quatsch zu sagen, der Kleine soll ruhig mit seinem Plastikschwert auf seine Schwester eindreschen, das sind halt die Hormone. Das stimmt nicht. Das ist das Bild, das wir den Jungs übermitteln: „Ist schon okay, Du bist ja ein Junge.“
Es ist also nur die Prägung?
Ja, das sind alles nur wir selbst schuld. Wir, die den Jungs mitgeben, Jungs seien halt wild. Fängt schon im Mutterleib an. Es gibt Studien, die belegen, dass selbst Schwangere mit ihren Ungeborenen anders sprechen, sobald sie dessen Geschlecht erfahren haben. „Mann, der tritt aber stark, wird bestimmt mal ein Fußballer!“ Und bei Mädchen: „Ach, die Süße, sie schläft schon wieder.“ Auch wenn das eine Kind vielleicht genau so aktiv ist wie das andere.
Wir sollten Jungs das Wilde also nicht so durchgehen lassen? Und Mädchen wären genau so wild, wenn wir sie anders erzogen hätten?
Es wird sehr viel Genderforschung betrieben. Einmal sollten Krabbelkinder einen Parcours langkrabbeln. Das Ergebnis: Die Mütter von Töchtern haben ihnen viel weniger zugetraut. Die Mütter von Jungs dachten eher, dass die das schon schaffen. Man ist mit Mädchen viel vorsichtiger. Und klar: Wenn du einem Jungen sagst, er soll runter springen, springt er auch. Deshalb landen statistisch in den Notaufnahmen auch mehr Jungs als Mädchen. Die sind wilder, stimmt, sie trauen sich mehr zu, weil wir sie vermehrt dazu motivieren, sich in Gefahrensituationen zu begeben.
Und egal wie bewusst Eltern sich dessen sein mögen, kommen ihre Kinder nicht um diese Rollenbilder herum. Sie werden auch in der liberalsten Kita an sie herangetragen. In der Schule erst recht.
„Das Kinderverstehbuch“ von Sandra Winkler, 320 Seiten, 15 Euro, am 3. März 2020 bei dtv erschienen