Das Mädchen von der Müllkippe

Fragmente eines Spin-Offs: In „Bilder deiner großen Liebe“ wollte Wolfgang Herrndorf die Geschichte des Mädchens aus „Tschick“ erzählen. Wegen Herrndorfs Krebserkrankung blieb der Roman bis zuletzt unvollendet – erschienen ist dieses Roadmovie über eine verlorene Tochter nun trotzdem.

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Gelesen während einer Zugfahrt von Duisburg nach Berlin. Kid A war wegen Fieber mit Mama zuhause.

Isa rennt weg. Erst aus der Klapse, in der man sie für verrückt hielt, dann vor Bauarbeitern, Schriftstellern und LKW-Fahrern. Eigentlich ist das 14-jährige Mädchen, das Wolfgang Herrndorf in „Bilder deiner großen Liebe“ ihre eigene Geschichte andeuten lässt, ständig auf der Flucht, auch kaputte Füße, üble Erinnerungen und perverse Männer halten sie nicht auf. Allein wohin, das weiß man nicht. Ihr einziges Hab und Gut und somit das Glück des Lesers: Isas Tagebuch und ihre darin niedergeschriebene große bis weise Klappe, mit der sie von Begegnungen, Ernüchterungen und Hirngespinsten berichtet.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist Wolfgang Herrndorfs letzter und unvollendeter Roman. Der Autor nahm sich am 26. August 2013 in Berlin wegen eines Hirntumors das Leben. Er erschoss sich. Als Zeugnis dieser Entscheidung und ihrer Folgen schrieb Herrndorf zu Lebzeiten sein Blog „Arbeit und Struktur“, posthum erschienen diese Kurztexte als Buch. Er wollte das so – die Veröffentlichung jedweder Fragmente verbot er aber qua Testament. Erst später, kurz vor seinem endgültigen Tod, wollte er Isas Geschichte doch veröffentlicht wissen. „Ohne Germanistenscheiß“, am liebsten mit Co-Autor und unter dem Titel, der es schließlich auch geworden ist, wie sich seine literarischen Nachlassverwalter Kathrin Passig und Marcus Gärtner im Anhang erinnern.

Sein Freitod ist noch tragischer und gleichzeitig folgerichtiger, wenn man Wolfgang Herrnsdorfs wunderbaren Bestseller „Tschick“ gelesen hat – und das sollte man, schon um „Bilder deiner großen Liebe“ mehr Bedeutung abgewinnen zu können, getan haben. „Tschick“ ist eine Art Teenagertour für Erwachsene und eine kleine Zeitreise aller, die selbst mal vorpubertierende Jungen waren – zuerst war und ist die Geschichte von Maik Klingenbergs und Andrej Tschichatschows Roadtrip durch Ostdeutschland aber eine ultimative Bejahung an die Jugend und an ein selbstbestimmtes Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. An einer maßgeblichen Stelle in „Tschick“ treffen die Protagonisten auf ein Mädchen namens Isa. Man erfährt so gut wie nichts über sie, außer, dass sie gerade auf einer Müllkippe lebt, ein loses Mundwerk und mutmaßlich Ahnung vom Leben und von Sex hat – und dass sie den schüchternen Maik mag. Die drei Kinder freunden sich an, verlieren sich wieder, und eben da knüpft „Bilder deiner großen Liebe“ lose an.

Das Treffen auf der Müllkippe schildert Herrndorf diesmal aus Isas Sicht und in aller todgegebenen Kürze. Isa ahnt, was mit Tschick los ist und dass Maik sich in sie verliebt hat, er selbst es aber noch nicht weiß. So wie der Leser jetzt erst erfährt, wie nah Isa Maik während dessen Schlaf doch kam, so berühren sich hier „Tschick“ und „Bilder deiner großen Liebe“ auf fast zauberhafte Art und Weise. Diese Szene bleibt, wenngleich die wichtigste auf den 127 Seiten, gleichzeitig nur eine von vielen, die an-, aber nicht auserzählt werden. Weil Herrndorf wegen seiner Krankheit nicht mehr anders konnte, vielleicht aber auch, weil er sie nicht anders wollte.

Das Tragischste und Schönste an Isas Momentaufnahmen wie die vom Treffen mit Maik und Andrej oder mit einem taubstummen Jungen oder einem toten Mann im Wald: Was davon Fakt und was Fiktion ist, bleibt halbwegs im Unklaren. So verschafft etwa Isas nüchterner Umgang mit all den von ihr am Rande erwähnten, immer wiederkehrenden Altherrenphantasien, mit denen sie sich so konfrontiert sieht, vielleicht eine Ahnung über ihre Vergangenheit. Vielleicht hat sie sich all das aber nur nur ausgedacht. Wie auch den kurzen Gedanken an ihren Vater, der sich ärgern wird, wenn er von ihrer Flucht erfährt und man als Leser gar mutmaßt, Isa könne einst sein Opfer gewesen sein und fliehe vor allen Dingen mit und von ihrer eigenen, kaputten Psyche. Es bleibt so ungewiss wie Isas Ende, das vielleicht ja auch ein Anfang ist.

Außenseiterroman-Fragmente:
Wolfgang Herrndorf – „Bilder deiner großen Liebe“, Rowohlt Berlin, 144 Seiten, 26. September 2014, 16,99 Euro
(zum Beispiel hier)

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