Now, that I have your attention: Warum gerade Männer sich in die Debatte um die Moderation von „Titel, Thesen, Temperamente“ einmischen sollten – oder sie mindestens zum Anlass nehmen, über sich selbst und das dahinter liegende Problem nachzudenken.
Aufregung in Teilen der deutschen Medienlandschaft: Am 19. Dezember 2024 verkündeten die Verantwortlichen der ARD-Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ eine fragliche Entscheidung. Anstelle des scheidenden Moderators Max Moor sollte künftig der Journalist Thilo Mischke (im Wechsel mit Siham El-Maimouni) vor der Kamera stehen. Mit der aus anderen Gründen nicht völlig unumstrittenen Jule Lobo sollte er zudem einen TTT-Podcast moderieren.
Ja, der Autor von Büchern mit Titeln mit „In 80 Frauen um die Welt“ und „Die Frau fürs Leben braucht keinen großen Busen“ fiel zuletzt vor allem durch Undercover-, und Kriegsreportagen sowie eine wichtige Rechtsradikal-Doku auf. In den Augen vieler Kritiker*innen aber noch viel mehr (und auch abseits genannter Bücher) durch nicht „verjährte“, sondern anhaltende Misogynie, Sexismus, Rassismus und der Verbreitung von wissenschaftlich unfundierten Vergewaltigungstheorien, recherchiert für den Podcast „Feminist Shelf Control“ und dessen Sonderfolge „Die Causa TTThilo Mischke“, erweitert durch ein öffentlich einsehbares Google Doc namens „Mischke Shownotes“, sodass jede*r an der Recherche teilhaben kann. So jemand, der zudem bisher nicht in erster Linie als Kulturjournalist in Erscheinung trat, sei im Jahr 2024 keine kluge Wahl zur Besetzung eines derart einflussreichen Postens.
Die Social-Media-Redaktion von TTT schob eine Bitte um Geduld nach, man säße die Kritik nicht aus:
Nun, dachte ich danach und „zwischen den Tagen“: Zu all dem müsste ich als Mann, Vater, Journalist und Autor eines Buches, in dem es um (fehlende) Gleichberechtigung im Beruflichen und Privaten geht, doch eine Meinung haben (habe ich) und sie auch verkünden, oder? Und warum habe ich das dann bisher nicht getan?
Warum ich mich in der Debatte um die Moderation von „Titel, Thesen, Temperamente“ bisher nicht geäußert habe – so wichtig sie auch ist
Erstens: Mich hat niemand gefragt. Keine*r wartet auf mein Take. Ich muss mir keine Bühnen nehmen, auf die mich niemand geladen hat.
Zweitens: Ich schaue, wie bestimmt die meisten hier, seit über einem Jahrzehnt kein lineares TV-Programm mehr. Wer welche Sendung moderiert, tangiert mich persönlich also keineswegs. Zumindest auf den ersten Blick.
Drittens: So sehr ich die Vorwürfe und die Kritik nachvollziehen kann, so wenig habe ich sie selbst überprüft. Ich habe das kritisierte Buch nicht selbst gelesen, die Podcastfolgen, in denen viele der zitierten Sätze gefallen sein sollen, nicht selbst gehört. (Aber ich vertraue natürlich den Journalist*innen, die das taten, dass sie nichts aus dem Zusammenhang gerissen haben, um jemanden falsch darzustellen. Andernfalls müsste ich ja am Großteil meiner eigenen, äh, Zunft zweifeln.)
Viertens: Ich bin trotz zahlreicher Privilegien (und mangels Reichweite) sowie meines beruflichen Daseins als, nun ja, Kultur- oder Popkulturjournalist, Podcaster und Elternkolumnist, glaube ich, kein Teil der Bro Culture in der deutschen Medienbubble. Und das, obwohl ich viele dieser reichweitenstarken (und durchaus unterhaltsamen) Laber-Brocasts höre und mit einem Freund und Kollegen meines Alters selbst einen Podcast schmeiße. Ich habe deshalb keine Angst, durch eine Äußerung weniger Jobs und Aufträge zu bekommen. Einerseits.
Andererseits bin ich ein weißer, heterosexueller cis-Mann über 40, der zumindest versucht, seine Privilegien, seine „Männlichkeit“ und seine Rolle und Rollenerwartungen zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Hätte ich die Reichweite, die zum Beispiel ein Thilo Mischke hat, und würde mich in der Causa öffentlich äußern, ich hätte, hoffentlich unberechtigte, Sorge vor der eigenen Fallhöhe: Was, wenn ich selbst manchmal ein Arschloch war oder bin? Ein Typ, der Frauen, wenngleich unbewusst oder ohne böse Absicht, uncool behandelt hat? (I‘m sure I did. I know it.) Und die das dann monieren? (Looking at you, El Hotzo.) Nee. Ich mag mich lieber nicht höher stellen, als ich qua Geschlecht und Herkunft eh schon stehe, und das auch, aber nicht nur, aus Egoismus und Selbstschutz: Mir tun bereits kleine Stürze weh.
Fünftens: Ich kenne Thilo beruflich persönlich. Im Grunde auch nur sehr flüchtig. Der letzte Kontakt ist ewig her. Damals arbeitete ich als „editor-in-chief“ bei einem längst verschwundenen Online-Magazin mit der, Achtung, Werbewunschzielgruppe Männer. Er schrieb für mich beziehungsweise ließ seinen Schreibbüronachwuchs für unsere Redaktion schreiben. Sein Buch „In 80 Frauen um die Welt“ war damals noch nicht erschienen. Es ging vielmehr um Videospiele und Gadgets. Trotzdem gebietet es zumindest meine Höflichkeit, nicht öffentlich Kritik an Menschen oder deren Sagen und Tun zu üben, die ich, zumindest theoretisch, vorab auch persönlich adressieren könnte oder sollte.
That being said: Warum ich mich, so widersprüchlich wie eh und je, mit diesem Blogpost trotzdem (wenngleich eher zwischen den Zeilen) äußere?
Warum Typen wie ich in bestimmten Debatten lieber nicht schweigen sollten
Zum Beispiel genau wegen der in Punkt 4 genannten Privilegien. Weil genau so Typen wie ich als Ally denen zur Seite springen sollten, deren Stimmen zumindest in gewissen Bro-Culture-Kreisen – oder „Kumpelkult“, wie Jagoda Marinić die Seilschaften „ach so reflektierter Medienmänner“ in ihrer „Stern“-Kolumne nennt – nicht so recht gehört oder ernstgenommen werden. Sie brauchen mich oder andere Männer nicht, Journalistinnen und Autorinnen wie Annika Brockschmidt, Rebekka Endler, Anja Rützel, Isabella Caldart, zum Beispiel, die jede für sich mehr Reichweite haben, als ich jemals haben werde (und die damit denen Stimmen geben, die wirklich keine haben). Sie alle und ihre „Feminist Shelf Control“-Podcastfolge ernteten zurecht Applaus aus ihren Bubbles. Während andere (Männer) sie mitunter, laut oder leise, als stressige Feministinnen oder als „ein paar Kritikerinnen“ abtun. Als solche, die über die Mischkes dieser Welt lästerten, eine Art Hetzjagd initiierten, vielleicht sogar neidisch seien. Einer schrieb auf „Threads“, man solle ungeliebte Kulturpodcasts doch „einfach nicht hören!“ (und revidierte danach aber sein vorschnelles Urteil). Sogar der Fernsehsender ProSieben entblödete sich nicht, auf seinem X-Account (den ich hier wegen „X“ bewusst nicht verlinke oder einbette) von einer „wilden Jagd“ auf Mischke zu sprechen und gegen die Kritiker*innen zu schießen: „Wir schätzen ihn, weil er seit Jahren unfassbar wichtige und gute Reportagen macht, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. Ihn nur an einem Buch aus der Damals-Zeit zu messen, ist ein sehr sehr selbstgerechter Ansatz, der viel über diejenigen aussagt, die genau das machen.“
So funktioniert unser Patriarchat noch immer in weiten Teilen: Erst wenn Typen wie ich (oder besser noch solche mit mehr Reichweite) das gleiche sagen und meinen, hören die Nachwuchs-Gottschalks vielleicht auch mal zu. Dies war zumindest der fromme Wunsch und die Idee meines Verlags und mir, als wir 2022 das Buch „Vater können das auch!“ herausbrachten, in dem ich über Schieflagen und fehlende Gleichberechtigung spreche, über die Frauen teilweise seit Jahrzehnten stöhnen. Aber ihnen hört ja niemand, pardon, kein Mann zu. Gekauft haben das Buch am Ende und so weit ich weiß zuerst wieder die Frauen. Teilweise als Geschenk für ihre Männer, die mutmaßlich gar nicht kapieren, dass auch sie von dieser Erkenntnis profitieren würden.
I am far from perfect, im Gegenteil, oder um es mit dem ebenfalls (anders und diffuser) schwierig gewordenen Fall des Jan „Monchi“ Gorkow von Feine Sahne Fischfilet zu sagen, dem sie auch vorwarfen, Wasser zu predigen, aber Wein zu trinken: „Ich habe Rassismus und Sexismus zuhauf in meinem Kopf, das hält man gar nicht aus. Aber ich versuche, darüber nachzudenken und mich nicht davon leiten zu lassen.“
Mir geht es nicht um Verurteilung oder Cancel Culture. Die Person(en), um die es in der Debatte ging und geht, sind nur Platzhalter. Es geht um Sensibilisierung, Reflexion und Empathie. Anderen, der Welt und sich selbst gegenüber. Um das Hinterfragen von Macht, Strukturen und Diskursen. Das ist zumindest das, was ich meinen eigenen Söhnen (und mir selbst) unter anderem versuche, mit auf den weiteren Weg zu geben. Und hey, die kann ich auch ohne Social-Media-Reichweite und die richtigen Bros erreichen.
Wer nicht mitgekriegt hat, worum es im Detail geht, schaue, lese und höre gerne bei @feministshelfcontrol oder Rebekka Endlers Gastbeitrag bei „Übermedien“ nach. Falls diese kurz vorm Weihnachtsfest begonnene und deshalb medial halbwegs verpuffte Debatte außerhalb gewisser Blasen überhaupt wen interessiert.
Offener Brief von über 200 Kulturschaffenden
This is a developing story: Viele Kritiker*innen der Kritiker*innen behaupteten, dass „In 80 Frauen um die Welt doch quasi eine späte Jugendsünde gewesen sei, eine Dummheit, auch die ARD stand bis zuletzt hinter ihrem neuen Moderator und ihrer Entscheidung. „Bei uns ist er richtig“, hieß es. Seit der Veröffentlichung des kritisierten Buches, von dessen Inhalt und Titel er sich distanziere, habe sich Mischke zudem „intensiv und selbstkritisch mit den Vorwürfen, darin ein sexistisches Frauenbild vermittelt und stellenweise rassistische Sprache benutzt zu haben, auseinandergesetzt“, sich „mehrfach öffentlich der Kritik gestellt und für seine Ausdrucksweise entschuldigt.“ Wenn dies stimmte, wäre ich der Letzte, der eine derartige Weiterentwicklung nicht willkommen hieße, denn genau darum geht es ja, um Fehlerkultur, um ein Dazulernen, um innere und äußere Auseinandersetzung. Und ja, er ist bestimmt, das meine ich ganz unironisch, „eigentlich“ 1 richtiger nicer Kerl. Im „Feminist Shelf Control“-Podcast belegen die Macher*innen anhand von Aussagen des Moderators in diversen anderen Podcasts aber, dass deutlich jüngere Aussagen vom Gegenteil zeugten, sprich: Dass er sich eigentlich doch nicht oder nicht so recht nicht nur vom Buchtitel, sondern auch von einigen Inhalten sowie von späteren Aussagen distanziert habe. Oder, anders: Dass eine wirkliche öffentliche Auseinandersetzung, die es aber für eine Person, die Deutschlands größtes Kulturmagazin moderieren solle, brauche, nicht stattgefunden habe.
Verpufft ist die Angelegenheit entgegen des typischen Verlaufs von online losgetretenen Aufregern (um nicht Shitstorms zu sagen, denn das hier war und ist keiner, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit einem darüber liegenden Problem) im Jahr 2025 keineswegs. Am 2. Januar wandten sich über 100 Autor*innen und Kulturschaffende, darunter Mareice Kaiser, Teresa Bücker, Mareike Fallwickl, Raul Krauthausen, Till Raether, Jasmin Schreiber, Margarete Stokowski und Saša Stanišić in einem offenen Brief an die zuständige Programmdirektion der ARD. Über 100 Weitere unterschrieben im Nachhinein ebenfalls. Darin kritisierten sie die Neubesetzung des Moderators der Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ unter anderem mit den folgenden Worten:
„(…) Deshalb sind wir bestürzt über diese Personalentscheidung der ARD, mit der die Kultursendung „ttt – titel thesen temperamente“ nachhaltig beschädigt wird. Wir wünschen uns für das Kulturfernsehen enthusiastische und an Kultur interessierte Moderator*innen, die sensibel und empathisch in der Lage sind, auf Gegenwartsdiskurse zu antworten und der Komplexität aktueller Kulturdebatten gerecht zu werden. Eine Zusammenarbeit mit Thilo Mischke als Moderator der Kultursendung „ttt – titel thesen temperamente“ schließen wir deshalb für uns aus. (…)“
Das klingt für mich nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung und dem Wunsch, dass die ARD sich dieser ja konstruktiv gemeinten Kritik und dem damit verbundenen Hinterfragen von Strukturen, nicht nur von dieser einen vordergründigen Personalentscheidung stellt. Es kam anders: Ja, die Programmverantwortlichen der ARD erklärten am 5. Januar „gemeinsam“ mit Mischke, der sich bisher direkt öffentlich nicht äußerte, dass er doch nicht als „ttt“-Moderator eingesetzt werden würde. Als Grund aber wurde lediglich angeführt, dass man weiteren Rufschaden von sich selbst abwenden wolle. Den Kritiker*innen warfen sie fehlenden Respekt vor. Von einem wirklichen Wunsch nach inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Vorwürfen keine Spur. Zumal die „heftige Diskussion“ ja auch nicht stattfand, eben weil die andere Seite sich nicht äußerte. In mehreren Instagram-Kommentaren ist dafür die Rede davon, dass es – spätestens nach dem Lautwerden der ersten Kritik an dieser Personalie – innerhalb der Redaktion von „ttt“ wohl durchaus Stimmen gegeben habe, die diese Entscheidung nicht teilten, aber von den Programmverantwortlichen offenbar nicht ausreichend gehört wurden.
Der geplante Podcast mit Jule Lobo scheint entsprechend auch vom Tisch zu sein. Sie selbst sah sich unter anderem deshalb in der Kritik, weil Mischke ihre Wunsch Co-Moderator gewesen sei. Auf Instagram erklärt sie in den Kommentaren eines ersten, recht dünnen Statements zu dem Fall, dass sie ihn lediglich durch seine preisgekrönten Reportagen kenne. Die Bücher und diverse Aussagen seien ihr bis dahin nicht bekannt gewesen.
Im Grunde wird fast alles, was abseits von vordergründigen Personalentscheidungen gesagt, gefragt und hinterfragt werden sollte, in diesem Video von Lena Marbacher aufgeworfen. Man wird ja wohl noch träumen dürfen!
Ich bleibe derweil bei meiner freundlichen Bitte, die in erster Linie an mich selbst gerichtet ist, danach aber auch an all die Dudes da draußen vor den Mikrofonen und auf Bühnen: Bros, übt Kritik – auch an Euch selbst.
P.S.: If I still have your attention – folgt mir gerne auf Instagram unter @newkidandtheblog <3!
+++ Dieser Blogpost wurde am 3. Januar 2025 veröffentlicht und am 6. Januar 2025 aktualisiert. +++