Von Grundschulkindern und Gymnasialkarrieren

Zwischen einer Schulmesse und Jonathan Meese: Für meine Kolumne beim Deutschen Schulportal frage ich mich, wo Eltern (und das Bildungssystem) ihre Kinder mit all dem Noten- und Leistungsdruck beim Übergang auf die weiterführende Schule eigentlich hinführen wollen. Ein Erfahrungsbericht.

+++ Diese Kolumne ist zuerst am 29. Januar 2025 beim Deutschen Schulportal erschienen +++

Wer träumt, hat im deutschen Schulsystem in jeder Altersklasse oft keine Chance. Immer öfter aber auch der nicht, der „funktioniert“. (Illustration generiert mit künstlicher Intelligenz (DALL·E, OpenAI))

Dass ich die Karriere meiner eigenen Kinder mutmaßlich sträflich vernachlässige, wurde mir zum ersten Mal vor rund zwei Jahren bewusst. Damals wechselte unser Sohn von der zweiten in die dritte Klasse. Ich wunderte mich: Warum wählt ein Großteil der anderen Kinder Französisch als erste – fraglos wunderschöne wie verbreitete – Fremdsprache? Liegt Englisch nicht viel näher? Die Antwort erschloss sich mir erst später: Zur Aufnahme bei einem wohl sehr renommierten Gymnasium in unserem Stadtteil sind erweiterte Kenntnisse der französischen Sprache wegen des dortigen Schwerpunktes Grundvoraussetzung. Sérieusement, chèrs parents? Oder bin ich hier der Blöde, weil ich mich nicht derart frühzeitig informierte? Und weil mir wichtiger ist, dass mein Kind Spaß am Erlernen einer Sprache entwickelt, die ihm in seinem Alltag unmittelbarer weiterhelfen wird, als dass es schon mit neun Jahren Leistungsdruck mit auf den Weg kriegt?

So geht es seitdem „fröhlich“ weiter. Vor ein paar Monaten – und noch bevor die Aufnahmekriterien für einen Gymnasialbesuch in Berlin durch Tests und Probeunterricht verschärft wurden – besuchten wir eine Art Messe, bei der sich weiterführende Schulen unseres Bezirks vorstellten. In einer Stadt wie Berlin, in der es, anders als damals in meinem Heimatdorf (infrage kamen für mich zwei Gymnasien oder eine Realschule in der Nachbarstadt sowie, notfalls, eine damals noch existierende Hauptschule), eine sehr große Auswahl an Sekundarschulen gibt, eine eigentlich wichtige Veranstaltung. Die war aber derart überfüllt von nach den besten Plätzen und Bewerbungstipps geifernden oder – wie wir – desillusionierten Eltern, dass wir es dort nicht lange aushielten.

Frühzeitiger Drill oder möglichst viele Freiheiten?

Natürlich wollen auch wir, wie gewiss alle Eltern, nur das Beste für unsere Kinder. Die subjektiven Definitionen von „das Beste“ aber, die gehen wohl auseinander. Will ich sie – sofern sie nicht selbst aufrichtig Bock darauf haben – wirklich zu einem Einser-Schnitt in den Klassen 4, 5 und 6 drillen, damit dieser Drill auf einer Spitzenschule weitergehen „darf“? Und all das mit dem Ziel, das Abi schon nach 12 statt 13 Schuljahren in der Tasche zu haben?

Das Für und Wider dieser Frage wurde mir zu Beginn des laufenden Schuljahres in zwei verschiedenen Klassen an den zwei verschiedenen Schulen meiner Söhne anschaulich illustriert. Es geht um die zwei Seiten von möglichst frühzeitiger Notenvergabe unter Grundschülerinnen und -schülern. Auf dem einen Elternabend plädierte die Lehrerin von 25 Viertklässlerinnen und Viertklässlern für die Einführung von Noten. Nicht, weil sie diese Art der Bewertung und des Vergleichs an sich gutheißen würde, sondern weil sie weiß, dass das Schulsystem ihr ab Klasse 5 ohnehin keine andere Wahl lässt und die Schülerinnen und Schüler auf diese Weise milde herangeführt werden könnten. Auf dem anderen Elternabend machte die Lehrerin einer aus Viert-, Fünft- und Sechstklässlerinnen und -klässlern bestehenden Klasse keinen Hehl daraus, dass, wenn es nach ihr ginge, niemals Noten eingeführt würden, weil die so gut wie gar nichts aussagten über die tatsächlichen Fähigkeiten und Talente eines Kindes. Ich finde: Im Kern dieser Debatte, in der sich die Lehrerinnen im Grunde einig waren, geht es um Realismus vs. Utopie. Und das Verfolgen einer Utopie – zum Beispiel einer Schule ohne Noten – sollte doch ein Ziel sein, um eines Tages wenigstens irgendwo hinter dem Jetzt-Zustand anzukommen beziehungsweise zwischenzuhalten. Man kann nur hoffen, dass wegen der zuletzt schwächeren Geburtenrate, die aktuell für überraschend viele vakante Kitaplätze sorgt, auch die Oberschulen ihre Ansprüche anpassen müssen. Und dass der Lehrkräftemangel daraus kein Nullsummenspiel macht.

Womit wir bei Jonathan Meese wären.

Seit ich mich erfolgreich durchs Abitur mogelte und die Schule verließ, fragte mich niemand jemals mehr nach meinen Schulnoten oder danach, in welchem Alter ich Wurzeln ziehen konnte.

„Träum weiter! Mach dein Ding!“

Als Gast im Podcast „Hotel Matze“ erinnerte sich der berühmte, nicht unumstrittene, aber/weil radikal freigeistige Künstler an all die Einser-Schülerinnen und -Schüler aus seiner Schulzeit. Im Alter von 18 Jahren seien die alle durch und ausgebrannt gewesen und hätten keine Ideen mehr gehabt. „Ich bin davon überzeugt, dass Konkurrenzdenken ausgereizt ist. Es bringt gar nichts mehr. Es ist pyramidal. Konkurrenzdenken heißt: Einer gewinnt, eine Million verlieren“, befand er etwa. Ihm selbst wurde stets nahegelegt, dass er als Schüler und damit auch als Mensch nicht richtig sei. Sätze wie „Träum nicht so!“ und „Starr’ nicht an die Tafelecke!“ habe er ständig gehört. Niemand aber habe ihm gesagt: „Träum’ weiter! Mach dein Ding! Du wirst Deinen Weg finden!“ Sätze, die er auch gerne mal gehört hätte.

Die Tatsache, dass seine spätere Karriere seine damaligen Kritikerinnen und Kritiker heute Lügen straft, hilft dem Teenager Meese auch nicht mehr weiter. Der heutige Künstler Meese findet: „Kunst ist alles, was du tust, wenn du es mit Liebe tust. Malen. S-Bahn fahren. Brot verkaufen. Hauptsache, du machst es ohne Zynismus.“ Eine schöne Utopie, wie ich finde, zwischen fragwürdigeren von ihm im Podcast formulierten Utopien und Slogans.

Und hey: Seit ich mich erfolgreich durchs Abitur mogelte und die Schule verließ, fragte mich niemand jemals mehr nach meinen Schulnoten oder danach, in welchem Alter ich Wurzeln ziehen konnte. Ich bin aber auch kein Zahnarzt geworden.

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