„Fast jedes Kind kann von Mobbing betroffen werden“

Von Streitigkeiten bis Cybermobbing: Dr. Michael Elpers im Gespräch über Täter*innen, Betroffene und wie Schulen und Eltern angemessen (re-)agieren sollten.

2023 erschien sein Buch „Wenn Kinder unter Kindern leiden“: Dr. Michael Elpers, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut

Dr. Michael Elpers ist Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut. In Berlin-Schöneberg betreibt er eine eigene Praxis. 2023 ist im Beltz-Verlag sein Buch „Wenn Kinder unter Kindern leiden“ (Affiliate Link) erschienen. Aus diesen Gründen habe ich mit ihm für den „Tagesspiegel“ über Mobbing gesprochen. Der Text, in dem auch der Betroffene Hannes Dezulian zu Wort kommt (den ich zuvor bereits im Auftrag der DAK vor laufender Kamera traf), ist am 22. April 2025 auf tagesspiegel.de unter der Überschrift „Wie kann ich meine Kinder vor Mobbing schützen?“ erschienen. Weil ich mit Elpers über mehr als „nur“ die darin zitierten Punkte sprach und das Thema gewiss für alle Eltern und ihre Kinder ein wichtiges ist, veröffentliche ich an dieser Stelle die nahezu ungekürzte Version des Interviews.

Meinen Fragen vorweg schob er einen Hinweis darüber, was für Eltern schwierig sei: Es gebe im klassischen Sinne kein Mobbingsyndrom. Ob psychische Probleme oder Verhaltensänderungen am Mobbing liegen, sei nicht unmittelbar zu erkennen. Wenn Schulkinder sich verändern, habe dies aber sehr häufig auch mit der Schule zu tun. Zu einem klassischen Mobbing gehöre eine Menge dazu: Bewusstes Ausgrenzen. Der Wille zur bewussten Schädigung des Kindes. Streitigkeiten auf dem Schulhof gebe es immer, das sei ein Unterschied. Wenn Kinder gemobbt werden, sei ihnen das oftmals peinlich. Sie redeten nicht sofort darüber.

Wo verläuft die Grenze zwischen Mobbing und Streit, Herr Dr. Elpers?

Dr. Michael Elpers: Mobbing muss sich über einen längeren Zeitraum gegen ein bestimmtes Kind mit der klaren Absicht richten, ihm Schaden zuzufügen. Wenn jemand Kinder in der ganzen Klasse angreift und das nur kurz, ist das nicht unbedingt Mobbing. Weil es alle betrifft. Bei Beschimpfungen in der U-Bahn wegen einer anderen Hautfarbe oder einer sichtbaren Behinderung, ist das Diskriminierung. Der Täter oder die Täterin kennt mich ja nicht, und das tun sie und die Geschädigten beim Mobbing in der Regel. 

Ohne Taten zu rechtfertigen: Gibt es typische „Gründe“ für Mobbing?

Fast jede*r kann Opfer von Mobbing oder Stalking werden. Es gibt kein typisches Profil, aber Risikofaktoren: Wenn ich schüchtern und zurückhaltend bin und mich nicht wehren kann, fällt es Täter*innen leichter, mich anzugreifen. Weil ihre eigene Gefahr geringer ist. Gerade in einer Stadt mit hoher Kinderarmut wie Berlin spielt auch soziale Ausgrenzung eine Rolle – dann sogar weniger in Brennpunktschulen, sondern Schulen in gutbürgerlichen Milieus, wo Unterschiede stärker zutage treten. Es kann aber auch bloß an der „falschen“ politischen Einstellung oder an Turnschuhen der „falschen“ Marke liegen. Das psychische oder soziale Problem liegt aber meist beim Mobber oder der Mobberin. Sie lenken von sich ab.

Gibt es in Berlin weitere Unterschiede im Bundesvergleich als die der höheren Kinderarmut?

In Berlin herrscht eine starke Mischung der sozialen Herkunft, aber auch der Migration. In Berlin etwa beschäftigen sich verschiedene Einrichtungen ausschließlich mit religiösem Mobbing. Die Durchmischung hat große Vorteile, aber auch Nachteile, die oft aus den Elternhäusern mit in die Schulen gebracht werden. 

Geschehen in Berlin denn auch prozentual mehr Fälle, oder sind lediglich die Hintergründe andere?

Die Zahlen sind relativ gesehen nicht höher. Aber weil mehr Menschen auf engem Raum zusammenleben, steht Mobbing mehr im Blickpunkt. Dazu kommt: Im ländlichen Raum werden Probleme oft anders gelöst. Die soziale Durchmischung und der soziale Druck sind anders, wenn jeder jeden kennt. Auf der anderen Seite finden Amokläufe nach Mobbing auch fast nur auf dem Land statt. Bei den Tätern – ich kenne keine weiblichen Fälle – spielt Ausgrenzung immer eine Rolle. 

Sind die nachweisbaren Mobbingzahlen gestiegen? Oder haben sich die Fälle lediglich ins Digitale verschoben?

Die Verschiebung ins Digitale hat dazu geführt, dass die Mobbingwahrscheinlichkeit deutlich erhöht ist. In meiner Praxis berichten viele Eltern, dass ihr Kind gerade gemobbt würde. Oft kann ich sie dahingehend beruhigen, dass dies noch nicht vorliegt, man aber aufpassen muss, in welche Richtung sich die Vorfälle entwickeln. Eltern müssen da hartnäckig sein: Die Hilflosigkeit der Kinder wird ausgenutzt und durchs Mobbing verstärkt. Beim Cybermobbing wissen die Geschädigten oftmals nicht sofort, dass gerade etwas passiert. Die Sinus-Studie der Barmer belegt jedes Jahr aufs Neue, dass immer mehr Kinder und Jugendliche von Internetmobbing betroffen sind. Zwischen den Zeilen liest man heraus, dass dies oft lediglich einmalig der Fall gewesen ist. Internetmobbing ist außerdem ebenfalls nicht anonym. Täter*innen und Geschädigte kennen sich meistens. Zum Beispiel vom Schulhof. 

In welchen Altersklassen tritt Mobbing vermehrt auf? Cybermobbing vermutlich nicht bereits bei Sechsjährigen?

In 98 Prozent aller Haushalte in Deutschland gibt es mindestens ein Smartphone. Den größten Zuwachs an Smartphones verzeichnet die Altersklasse der Acht- bis Zehnjährigen. Das ist marktwirtschaftlich logisch, die anderen sind ja bereits gesättigt. Eltern glauben zunehmend, ihre Kinder bräuchten die Geräte für zum Beispiel die Schulwege. Die Kinder haben eine geringere Medienkompetenz und hinken wie ihre Eltern hinterher. In den Nutzungskenntnissen sind uns Kinder meist voraus, und wir müssen wenigstens wissen, welche Apps sie nutzen und was sie da machen. WhatsApp ist der meistgenutzte Messenger, deshalb passiert dort auch am wahrscheinlichsten etwas. In den Klassen 4-6 ist die Mobbingwahrscheinlichkeit am größten. Die Pubertät beginnt und fängt immer früher an. Kinder sind dann am verunsichertsten bezüglich ihrer eigenen Persönlichkeit. Mobbing kommt in allen Schulformen vor. Auf Gymnasien zwar seltener, dafür länger. Die Formen sind subtiler. Mädchen sind öfter betroffen als Jungs. Es gibt auch Täterinnen. Die Gewaltausübung unterscheidet sich: Jungs prügeln sich, tragen es externalisierend aus. Mädchen zeigen aggressive Gewalt subtiler. Die Rollenerwartungen sind zudem andere. Wenn in meine Praxis Mädchen mit ADHS-Verdacht kommen, frage ich die Eltern, ob sie bei einem Jungen die gleiche Vermutung hätten. Auch Mädchen können expansiv agieren, ohne gleich eine psychische Störung zu haben. 

man in black and white polo shirt beside writing board
Mobbing in Schulklassen findet zunehmend auch digital statt. (Foto: Pixabay via Pexels.com)

Mit welchen konkreten Sorgen kommen Eltern zu Ihnen? Wann geben Sie Entwarnung, wann schauen Sie genauer hin?

Schule ist das häufigste Thema. Kinder stehen dort seit Jahren zunehmend und massiv unter Druck. Oft kommen Eltern wegen Konzentrationsstörungen des Kindes und vermuten ADHS. Dahinter kann sich mehr verbergen. Ich frage das Kind dann generell und offen, ob Mobbing in der Klasse ein Thema ist. Nein, heißt es meist. Dann werde ich hartnäckiger und frage, ob es persönlich schon mal betroffen war. Eben weil es vielen peinlich ist. Man muss nicht bohren und bohren, aber die Möglichkeit im Hinterkopf behalten, in einer ruhigen Minute nachfragen und dranbleiben. Viele offenbaren sich, andere werden bedroht, wenn sie was sagen. Ich hatte mal einen Fall, in dem es hieß: „Sei ruhig und gib mit weiter jede Woche dein Geld, sonst passiert deiner Schwester was.“ Ignoranz und Ausgrenzung bedingt die meisten psychischen Störungen. Langzeitstudien fanden heraus, dass auch im Erwachsenenalter das Auftreten von Psychosen dadurch signifikant erhöht wird. Ich war von diesen Ergebnissen selbst überrascht.

Viele Schulen ignorieren die Systeme. Jede müsste einen Mobbingbeauftragten mit besonderer Schulung haben. Das Thema wird noch immer zu oft nicht ernst genommen. 

Was raten Sie Eltern, wenn Mobbing bei Ihrem Kind erkannt wurde?

Man muss sich bewusst sein: Wenn Sie auf dem Schulhof einen anderen Elternteil auf die mutmaßliche Täterschaft ihres Kindes ansprechen, werden Sie automatisch Ihr eigenes Kind in Schutz nehmen. So muss es ja auch sein. Allein wird ein Kind Mobbing aber auch nicht auflösen können, weil es ja bereits in einer schwierigen Ecke steht. Auf dem Land fruchten Elterngespräche eher als in der Großstadt, weil sich alle kennen. Wichtig ist, dem eigenen Kind zu signalisieren: Wir stehen hinter dir und schauen, was wir gemeinsam machen können. Aus der Passiv- in eine Aktivrolle kommen. „Opfer“, ich mag dieses Wort nicht, stehen als Geschädigte hilflos in einer Passivrolle. In eine Situation der aktiven Veränderung zu kommen, verstärkt auch das Selbstbewusstsein des Kindes. Ich würde zum Kind sagen: „Ich rede morgen mit Deinem Lehrer oder der Lehrerin und spreche das Mobbing offen an. Wenn es Dir ganz schlecht geht, sprechen wir auch mit einem Psychologen oder Psychiater, aber nur dann.“ Auch hilft es, Mobbingtagebuch zu führen. Keine Romane. Antworten auf W-Fragen, außer dem „Warum?“, notieren, um der Schule exakt zeigen zu können, was wann und wie durch wen passiert ist. Umso weniger kann die Schule behaupten, es käme bei ihnen gar nicht vor. Durch Gespräche mit Lehrkräften weiß ich: Viele Schulen ignorieren die Systeme. Jede müsste einen Mobbingbeauftragten mit besonderer Schulung haben. Das Thema wird noch immer zu oft nicht ernst genommen. 

Und wenn Lehrkräfte geschult sind, die Sache ernstnehmen und ein Gespräch stattfand…

… dann hat sich die Sache auch geklärt.

Wann empfiehlt sich dennoch ein Schulwechsel?

Wenn Eltern durch die Schule keine Hilfe erfahren und das Mobbing sich weiter verselbständigt trotz Gesprächen, würde ich einen Wechsel empfehlen. Doch Achtung: Mobbing kann eine strafbare Handlung sein. Insbesondere, wenn es nicht unterlassen wird. Es gibt ein Präzedenzurteil aus NRW: Ein nicht-strafmündiges Kind hat weiter gemobbt und war nicht jugendstrafrechtlich, aber zivilrechtlich verantwortlich dafür. Die Eltern wurden zu einer Geldstrafe verurteilt wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Beim Cybermobbing könnte eine Schule sagen: Damit haben wir nichts zu tun. Trotzdem machen es meist die Schüler*innen aus der Klasse und deswegen muss gemeinsam ein Weg gefunden werden. Gute Pädagog*innen finden den, und das kommt zum Glück ja auch oft genug vor.

Wie können wir unter Kindern die Resilienz fördern?

Man liest oft davon: Kinder stark machen ist wirklich die wichtigste Resilienz. Das fängt bei der Streitkultur zuhause an. Wenn ich mein Kind andauernd beleidige und herabsetze, wird das Kind dies in eigenen Konflikten genau so nutzen. Wenn ich meinen Sohn schlage, ist es sehr wahrscheinlich, dass der auch eines Tages Gewalt ausübt. Dass Familienmitglieder sich untereinander streiten, gehört zum Familienleben dazu. So können Kinder lernen, wie man sich richtig streitet. Und so Konflikte in der Schule besser lösen. Man muss sich zudem bewusst machen, dass Aggression zunächst einmal nichts Negatives ist. Streit gehört zur Persönlichkeitsentwicklung dazu. Selbst eine Prügelei auf dem Schulhof wird in der Regel relativ schnell ausgetragen. Es folgt nach Möglichkeit ein Kompromiss und alle vertragen sich wieder. Wenn im Kindergarten ein Kind dem anderen sein Spielzeug wegnimmt, geht es zunächst auch nur darum, eigene Grenzen auszutesten. Wenn ich als Erwachsener immer und sofort eingreife und den Streit unterbinde, hat ein Kind gar keine Chance, selbst streiten zu lernen. Eine gute Streitkultur in der Erziehung minimiert das Mobbingrisiko ungemein. 

Da brauchen Eltern gewiss auch ein Coaching, um gegenüber dem Kind nicht zu schnell zu genervt oder, unbewusst, herablassend zu reagieren.

Wir haben alle mal einen schlechten Tag. Das dürfen Kinder ruhig mitkriegen. Auch das theoretisch fundierteste Hintergrundwissen führt nicht dazu, immer pragmatisch und vernünftig zu handeln. Nobody is perfect. Aber der Wunsch nach Elternberatungen ist auch in unserer Praxis tatsächlich groß. Da geht es weniger darum, wer was falsch macht, sondern Aufklärung zum Wesen der jeweiligen Erkrankung. Und darum, wie man mit der Problematik umgehen sollte und inwiefern diese Ratschläge zu ihrem Familienleben passen. Ein weicher Mensch führt nicht alles in Drei-Wort-Sätzen durch. Wichtig ist eine klare Linie. Man muss und darf und kann Fehler machen. Man kann die aber auch kommunizieren. Wenn ich Mittel zur Herabsetzung permanent in der Erziehung einsetze, ist das etwas anderes. Wenn Sie mal ein falsches Wort benutzen, stecken Kinder das ganz gut weg. Oft besser als wir Erwachsenen. 

Wenn mein Kind das mobbende ist: Kann es der Schule verwiesen werden?

Ja. In meinem Buch schildere ich da einen leider besonderen Fall. Eltern eines gemobbten Kindes hatten nicht abgewartet, bis die Schule reagiert und den Verhalt klärt. Vorwürfe müssen neutral aufgenommen und die andere Seite angehört werden. Jene Eltern erwirkten einen Schulwechsel für ihr Kind. Die alte Schule und die Schulaufsicht hatten aber in der Zwischenzeit ebenfalls reagiert, einen Schulwechsel für das mobbende Kind initiiert – und beide haben sich auf der neuen Schule wiedergetroffen. Mit Folgen, die ich im Buch nicht öffentlich benannt habe und auch hier nicht werde. 

Wie reagiere ich als Elternteil eines mobbenden Kindes?

Wichtig ist es, aus Verteidigungshaltungen wie „Mein Kind macht so etwas nicht“ und „Wir haben alles richtig gemacht“ herauszukommen. Sondern selbstkritisch darauf zu schauen, was schiefgelaufen sein könnte. Nicht jedes Kind, das mobbt, ist per se ein aggressives Kind. Dahinter stecken ganz unterschiedliche Probleme. Depressive Störungen, familiäre Konflikte wegen Trennung der Eltern, zum Beispiel. Die höre ich mir in der Praxis an und schaue nach Möglichkeiten. Aber ich bin in der Situation auch nicht Vater oder Mutter. 

Es braucht also in erster Linie Kooperation. 

Die ist immer der Schlüssel. Wer sein Kind zu mir bringt und sagt: „Reparieren Sie das mal“, dann muss ich sagen, dass ich das ohne ihre Hilfe nicht schaffen werde.

Ist leider kein Armbruch.

Das ist der Nachteil an meinem Fachgebiet: Es dauert einfach, ist kleinschrittig und mühsam. Das ist für viele Eltern schwierig. 

Können Eltern auch die falschen Ansprechpartner sein?

Mobbing in Familien spielt tatsächlich eine zunehmend große Rolle. Die Strukturen sind ähnlich, die Auswirkungen gravierender. Weil es sich um vertraute Personen handelt. Kinder können ihre Eltern mobben und Eltern ihre Kinder. In Länder, in denen Präventionsprogramme in den Schulen von Anfang laufen, ist die Mobbingwahrscheinlichkeit signifikant geringer. Prävention von Anfang an ist wichtig, da Mobbing lebenslange Folgen nach sich ziehen kann.

Elpers, Michael: „Wenn Kinder unter Kindern leiden“ , Beltz, 2023.

Mein Gespräch mit Hannes Dezulian für mein YouTube-Format „Vatersicht“ im Auftrag der DAK:

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Zurück nach oben