Toxische Männlichkeit: Darum schadet sie auch Männern

Für die „Men’s Health“-Ausgabe 05/2023 durfte ich einen ausführlichen Text über toxische Männlichkeit schreiben. Hier ist er nun, zwei Jahre später, in voller Länge. Und in vielen Teilen leider aktueller denn je.

Wer dem zuvor in erster Linie als testosteroneskes Fitness- und Lifestyle-Magazin bekannte „Men’s Health“ sein optisches und inhaltliches Relaunch-Versprechen 2023 zu Unrecht noch nicht so recht abnahm: Die Redaktion, namentlich vor allem Marco Krahl und Arndt Ziegler, hatte sich für die Ausgabe 05/2023 nicht nur vergleichsweise mutig dazu entschieden, dem Thema „Toxische Männlichkeit“ als Schwerpunkt mehrere Seiten zu widmen. Nein, den Haupttext haben sie auch noch leichtsinnig in meine Hände gelegt – und damit einen Autor angeheuert, der von Sixpacks und gesunder Ernährung kaum weiter entfernt sein könnte. Ich danke ihnen für das Vertrauen – und veröffentliche hier, zweieinhalb Jahre später, den vollständigen Text in seiner unredigierten und ungekürzten Version, in der ich ihn damals einreichte.

UND WIE GIFTIG BIST DU?

Was bedeutet eigentlich toxische Männlichkeit und warum schadet die nicht nur Frauen und weiten Teilen der Gesellschaft, sondern auch Kerlen selbst? Es folgen ein paar unbequeme Wahrheiten – deren Erkenntnis und Veränderung aber auch Euer Leben besser machen werden.

Jeder, der als Jugendlicher schon mal auf einem Sportplatz und danach in einer Umkleidekabine stand, kennt Sprüche wie diese: „Was für eine Pussy!“ „Sei keine Heulsuse.“ „Kämpft so ein richtiger Mann?“ „Du schießt ja wie ein Mädchen!“ Oft gefolgt von, pardon, buchstäblichen Schwanzvergleichen. Cool fanden und finden solchen Mist in der Regel nur diejenigen, die ihn aussprechen – oft aber selbst die nicht. Viele junge Männer glauben noch immer, sie müssten den harten Hund raushängen lassen, um von ihresgleichen ernstgenommen zu werden. So sehr, dass Psycholog*innen der American Psychological Association (APA) in ihren Richtlinien für die „Psychologische Arbeit mit Jungen und Männern“ unlängst warnten: „Beschränkte Vorstellungen von Männlichkeit, die Aggressivität, Homophobie und Frauenfeindlichkeit betonen, können Jungs dazu veranlassen, einen Großteil ihrer Energie in schädliches Verhalten umzulenken, wie Mobbing, Spott gegenüber Homosexuellen oder sexuelle Belästigung – und nicht in gesunde schulische und außerschulische Aktivitäten.“ Und schon sind wir mittendrin im schwierigen Thema der toxischen Männlichkeit, von dem sich bitte niemand abschrecken lassen sollte. Spoiler: Es wird Euer Schaden nicht sein.

Weitere Beispiele für diese so genannte toxische Männlichkeit gibt es in unserem Alltag zuhauf: den Trainingspartner im Fitnesscenter, der unbedingt zehn Kilogramm mehr als Du drücken will. Der Fußballcoach, der Dich im Regen noch fünf Strafrunden rennen lässt. Der Arbeitskollege, der Deinen Umsatz drückt, um selbst besser dazustehen. Der Vater, der seinen Sohn vom Spielfeldrand aus anschreit – oder wegen Arbeit oder Kumpels gar nicht zum Spiel auftaucht. Der Chef, der auf Deine Frage nach einer wenigstens zweimonatigen Elternzeit antwortet: „Früher ging das doch auch anders.“ Der Onkel, der sich beim Familienfest abschätzig wundert, was Du als Vegetarier denn sonst isst, wenn schon kein Fleisch. Die grölenden Kumpels, die Dich zu einem zuvielten Bier oder Schnaps überreden wollen, „oder verträgst Du nix?“. Der Vorgesetzte, der seine Sekretärin – bei der Aufteilung fängt das Problem schon an – „Mäuschen“ nennt, selbst wenn er nicht Bernd Stromberg heißt. Männer-Magazine, die Sixpack und Stiernacken als Life- und Selfcaregoal Nummer 1 propagieren. Der anonyme Twitter-User, der sich über das Gewicht von Grünen-Chefin Ricarda Lang auslässt, anstatt über ihre Politik. Der Facebook-Troll, für den jede politische Aussage links von der AfD „linksgrünversifftes Gutmenschen-Gelaber“ darstellt und der Demonstrant*innen von „Fridays For Future“ oder „Die letzte Generation“ vorschlägt, sie sollen doch bitte erstmal richtig arbeiten gehen. Aber auch unsere Weltpolitik ist davon bestimmt: Kriegstreiber wie Wladimir Putin, hetzerische Narzissten wie Donald Trump, Konservative wie Friedrich Merz – sie alle sind davon besessen, dass die Welt früher besser war, wieder so werden soll wie annodazumal und nur sie mit möglichst ungebrochener Macht dieses Ziel erreichen können (natürlich auch, um ihren eigenen Reichtum zu mehren). Vor zehn Jahren noch nannte man solche Männer bestenfalls Idioten. Heute sind sie toxisch. Deshalb von vorne.

Die schwierige Definition von toxischer Maskulinität

Der Begriff der toxischen Männlichkeit ist aus dem Englischen abgeleitet, toxic masculinity heißt übersetzt erstmal so viel wie giftige Männlichkeit. Gemeint ist ein Verhalten von Männern, das bestimmt ist von der Ausübung physischer und psychischer verbaler und nonverbaler Aggression, in der Regel gegenüber Frauen, die sich als vermeintlich schwächeres Geschlecht unterzuordnen hätten, aber auch gegenüber Männern, die der angeblichen Norm nicht entsprechen. Dieses Verhalten wirkt sich toxisch, also giftig und gefährdend, auf ihr Umfeld aus – aber, dazu später mehr, auch auf sie selbst. Der Ursprung des Begriffs liegt in der mythopoetischen Männerbewegung, die wiederum ihre Wurzeln in der Romantik und in der „New Age“-Subkultur hat. Ihren Vertretern ging es um das Finden eines neuen, positiven Selbstverständnisses von Männern, die durch den Kriegsdienst seelisch verstümmelt worden seien. Er fand und findet seine Verwendung meist in feministischen Kontexten, zum Glück aber mittlerweile auch darüber hinaus, zum Beispiel auf diesen Seiten. In seinen Anfängen in den 80er- und 90er-Jahren wurden mit ihm Männer am Rande der Gesellschaft beschrieben, also etwa Häftlinge, die, oft zum schieren Überleben als Teil eines Teufelskreises, gewalttätig, homofeindlich und misogyn sein „mussten“. Zeitgleich aber gab es Männer, die sich gegen das seit der Nachkriegszeit vorherrschende Rollenbild ihres Geschlechts als starker, gefühlsloser Ernährer wehrten. Die Schuld daran ist damals absurderweise oft den Frauen zugewiesen worden, die dieses Verhalten von den Vätern ihrer Kinder erwartet hätten, weil die Mütter selbst solche Eigenschaften ja nun nicht hätten vermitteln können, der Begriff wurde deshalb zeitweise auch antifeministisch ausgelegt und zog Männerrechtsbewegungen nach sich, die sich als Opfer sahen.

Zu den Eigenschaften, die einen echten Mann angeblich ausmachen, gehören:

Sie dürfen keine Schwäche, Ängste, Trauer, Tränen oder sonstwelche Gefühle zeigen, Ausnahmen: Wut, Aggression, Gewalt. Sie packen an, sind selbstbewusste Macher und brauchen keine Hilfe. Sie kooperieren nicht, sie dominieren. Sie wollen immer Sex und können jederzeit, natürlich auch sehr ausdauernd. Mit Frauen freunden sie sich nicht an. Ihr Körper entspricht dem maskulinen Archetypus. Und trinkfest sind sie ebenfalls.

Dank #MeToo in den Mainstream

Zentralerer Teil der Debatten in unserer Gesellschaft wurde der Begriff Mitte der Zehner-Jahre vor allem „dank“ Unternehmer und Celebrity Donald Trump, der 2015 seine Präsidentschaftskandidatur erklärte, sowie durch Filmproduzent Harvey Weinstein, dem Ende 2017 Macht- und sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde – ein Skandal, der die #MeToo-Bewegung nach sich zog. Zahlreiche Frauen (aber auch Männer und nicht-binäre Personen) fühlten sich dadurch ermutigt, auch öffentlich darüber zu sprechen, welche (meist mächtigen) Männer sich ihnen wann unvereinnehmlich und deshalb mindestens übergriffig verhalten haben sollen. Und da ging es nicht nur um die Kevin Spaceys, Louis C.K.s, Marilyn Mansons und Dieter Wedels dieser Welt, sondern auch um Kollegen, Vorgesetzte, Fremde in der U-Bahn, die eigenen Partner. Viele Männer, die plötzlich Angst vor Vorwürfen ihnen gegenüber gekriegt haben dürften, werden sich gefragt haben: „Was ist denn plötzlich los? Früher war das doch auch kein Problem?“ Doch Harald, war es. Bloß waren sich viele der mutmaßlichen Opfer nicht im Klaren darüber, dass Dinge, die ihnen widerfahren, nicht okay sind – eben WEIL sie ja leider schon immer so liefen. Andere Männer fragen sich seitdem: Darf ich überhaupt noch flirten, ohne gleich gecancelt zu werden? Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Darfst du. Darfst halt nur kein Arschloch sein.

Es sind aber nicht nur die großen, offensichtlichen, gesellschaftlich einwandfrei als schlimm geltenden Taten wie Missbrauch, die als toxisch gelten. Es geht auch um die kleineren, viel zu lange als normal hingenommenen Dinge im Alltag, die dringend auf den Prüfstand müssen. Warum etwa sollte es okay sein, dass ein Mann sich weigert, sich um den eigenen Haushalt und die eigenen Kinder zu kümmern, weil dies doch Frauensache sei? Wieso glauben wir ackern zu müssen bis zum Burnout? Weshalb prahlen männliche Singles vor ihren Kumpels mit ihren One-Night-Stands? Zu Fragen wie diesen erschien, ebenfalls 2017, ein viel beachteter Essayband namens „Boys Don’t Cry“ des 24-jährigen Briten Jack Urwin. Die „Zeit“ nannte ihn „die Pop-Variante zum akademischen Diskurs“, die britische Journalistin Laurie Penny „das brillante, persönliche, nicht-einmal-sexistische Buch des Jahrtausends über Männlichkeit und Politik, auf das die Welt gewartet hat“. „Zeit“-Autorin Ann-Kristin Tlusty sieht in ihm trotz einiger Kritik und Auslassungen in Anspielung an den Film „Fight Club“ eine „niedrigschwellige Einführung“, „ein unakademisches Buch für den Männerclub. Für solche, die erst beginnen, über ihn zu sprechen, weil sie seiner Norm entsprechen.“ Männern, die das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht erkennen, empfiehlt Pädagoge Sebastian Tippe im Interview auf diesen Seiten hier einen Selbsttest: Er fragt sie, was sie beim Feiern tun, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen. ‚Gar nichts‘, antworten ihm die meisten. „Und dann lese ich ihnen die teils wirklich verstörenden Antworten von Frauen vor. Wir versuchen uns in die Perspektive einer Frau hineinzuversetzen, der wir abends in der Stadt begegnen. Schnell kommen die Teilnehmer dann darauf, mal selbstständig die Straßenseite zu wechseln, einfach um den Frauen ein mulmiges Gefühl zu ersparen.“

Denn ja: Einsicht ist wie so oft der erste Weg zur Besserung. Wir alle haben bestimmte Verhaltens- und Denkmuster in uns. Weil wir so erzogen wurden, weil wir sie in unserem Alltag täglich wahr- und deshalb als gegeben hinnehmen. Und weil wir lange keine anderen Vorbilder hatten: Wo der eigene Vater mit Abwesenheit und reglementierenden Sprüchen beim Abendessen glänzte, war nicht viel Raum für Gedanken darüber, ob es eigentlich okay ist, dass die Mutter wie selbstverständlich maximal in Teilzeit arbeiten ging und nebenher die sogenannte Care-Arbeit schmiss und sämtlichen familiären Mental Load, also Freizeit- und Arzttermine für die Kinder organisierte, putze, kochte, aufräumte und wusch. Rein wirtschaftlich erschien das logisch: Wenn der Mann mehr verdiente, sollte er auch der Haupternährer mit Vollzeitjob und Überstunden sein. Ein Teufelskreis: Je mehr sich diese Rollenbilder verstärkten, desto ungewöhnlicher wurde es, wenn ein Paar oder eine Familie sich an einem anderen Modell versuchen wollte – und desto gewöhnlicher wurde es, dass Männer Karriere machen, bis heute mehrheitlich in den Chef- und Vorstandsetagen großer Unternehmen sitzen und ihr erlerntes Mindset weitergeben: Warum, so denken die Stefans, Martins, Michaels und Dirks dieser Generation, sollte ich eine Frau einstellen, bei der das sogenannte Ausfallrisiko wegen Schwangerschaft, Kinderbetreuung und Teilzeitarbeit höher ist als bei einem männlichen Bewerber? Dies sorgt für doppelten Druck: Bei Frauen steigt die Angst, spätestens durch – den eines Tages ja Steuern zahlenden – Nachwuchs im beruflichen Abstellgleis zu landen. Und Männer glauben, nun erst recht performen zu müssen, keine Schwäche zeigen zu dürfen. Willkommen inmitten des Patriarchats, in dem wir leben – auch wenn es deren vordergründige Nutznießer nicht als das erkennen wollen, was es ist: ein System, das Männern Privilegien verschafft und Frauen in vielen Bereichen kleinhält. Und damit der Überbau für das, was wir heute toxische Männlichkeit nennen.

Es ist aber nicht nur unsere Erziehung und Sozialisation in bestimmten Rollenbildern Schuld. Auch die Medien tragen ihren Teil dazu bei. In Disneyfilmen sahen wir über Jahrzehnte hinweg Prinzessinnen, deren einziges Lebensziel darin bestand, von einem Prinzen geküsst und errettet zu werden (und umgekehrt). In Romcoms kämpft er um ihr Herz und schafft das oft durch das Ausstechen von Nebenbuhlern, durch berufliche und private Macher-Eigenschaften. Und in der Klatschpresse trägt meist die Frau die Schuld daran, wenn ihr ach so toller Mann sie verlassen hat, zum Beispiel Britney Spears, die Mitte der Nuller in denselben Medien und ihrem damaligen Branchenumfeld als die durchgeknallte psychisch Kranke dargestellt wurde, die Jahre vorher nach ihrer Trennung von Justin Timberlake vorwurfsvoll fragten: Warum hat Britney diese Beziehung zerstört? Was hat SIE alles falsch gemacht? Ironie des Schicksals, dass Spears selbst schon 2003 mit ihrem Hit „Toxic“ den Begriff in den Mainstream brachte.

Warum schadet toxische Männlichkeit auch den Männern selbst – und sogar der Wirtschaft?

Nachdem wir nun wissen, inwiefern toxische Männlichkeit Frauen schadet, stellt sich für manch einen die Frage: „Na und? Solange Männer davon profitieren, läuft es doch für sie. Warum sollten sie etwas daran ändern?“ Die Antwort darauf ist einfach: Vielen Männern schadet sie ebenfalls. Die, die anders leben und arbeiten wollen, haben es schwer. Wer beantragt schon gerne Teilzeit bei seinem Chef, wenn der bereits im Krankheitsfall eines Kindes fragt, warum sich die Mutter denn nicht kümmern könnte? Wer gibt gerne im Freundeskreis zu, dass er zwei Jahre in Elternzeit gehen möchte, wenn er Angst haben muss, dafür ausgelacht zu werden? Wer ist stark genug, sich deshalb lieber einen anderen Freundeskreis zu suchen? Wer stellt die eigene Karriere gerne dauerhaft vor die eigenen Bedürfnisse und die seiner Familie?

Der britische Autor und Streetworker JJ Bola hat ein Buch darüber geschrieben, warum Männer nicht nur Täter, sondern auch Opfer ihrer Selbstbilder sind. In „Sei kein Mann“ plädiert er dafür, dass Jungen und Männer ihre verletzliche Seite zeigen dürfen müssen, um nicht an der Erfüllung von Rollenerwartungen kaputtzugehen.  „Männer werden mit größerer Wahrscheinlichkeit als Frauen obdachlos, drogenabhängig, gewalttätig oder bringen sich um. Das alles, weil sie es nicht schaffen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Weil sie glauben, keine Schwäche zeigen zu dürfen. Weil sie in ein Bild passen wollen“, erläuterte Bola im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Und nicht nur ihre Psyche nimmt Schaden: In seinem Buch „Was Männer kosten“ hat Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen ausgerechnet, wie hoch der „Preis des Patriarchats“ ist. Deutschland gibt demnach im Jahr 63 Milliarden Euro mehr für Männer als für Frauen aus – zum Beispiel für Justizvollzug (94 Prozent der in Deutschland Inhaftierten sind männlich), durch Kosten für häusliche Gewalt, Polizei und Frauenhäuser. Langfristig teuer werden auch ungesunde Ernährung, Wirtschaftskriminalität und Verkehrsdelikte. Laut von Heesen hängen traditionelle Männlichkeit und Suchtverhalten eng zusammen. Männer konsumierten „legale und illegale Drogen, weil sie dem Druck, ein starker Mann sein zu müssen, nicht standhalten können.“

Davon weiß auch Sido nicht nur ein Lied zu singen, sondern gleich 14. Auf seinem aktuellen Album PAUL reflektiert der Rapper, der 2002 mit seinem „Arschficksong“ berühmt wurde, sein langjähriges öffentliches Dasein als Gangster aus dem Block und tough guy, das eines Tages in Sucht, Exzess, Absturz, psychiatrischer Behandlung und Trennung von seiner Frau und seinen Kindern mündete. Mit Zeilen wie „zwischen Leistungsdruck und Leistenbruch“ oder „ich geh den Flaschen auf den Grund, doch ich finde keinen Punkt, das ist bestimmt nicht so gesund, na und?“ kehrt Paul Würdig, so Sidos bürgerlicher Name, sich davon ab, länger den Starken spielen zu müssen. Gut, er hat mit diesem Image sehr viel Geld verdient, aber zu welchem Preis? Sidos Kurswechsel ist nicht nur für ihn unbedingt zu begrüßen: Er trägt dadurch seinen Teil zu dem bei, was auch JJ Bola fordert: Nicht nur die eigenen Eltern, sondern auch Sportler, Popstars und Influencer, also das mediale Umfeld müsse Männlichkeitsideale und Machogehabe überholen: „Man braucht als junger Mann auch Vorbilder außerhalb der eigenen vier Wände.“

Wenn dieses Umfeld geschaffen wurde, tun sich für Männer plötzlich ganz neue Möglichkeiten auf. Sie müssen nicht länger Fußball und Bier mögen, Bärte tragen und Überperformer sein, die sich nebenbei für Autos, Aktien und scharfe Bräute interessieren. Sie dürfen Schwäche zeigen, Nagellack und Röcke tragen, zu einer Therapie gehen, die nicht bossmäßig „Coaching“ heißen muss und so weiter. Kurzum: Sie dürfen tun, was ihnen guttut und niemand anderem schadet. Das ist leichter gesagt als getan. Wer sein Leben lang von bestimmten Erwartungshaltungen umgeben war, kann sich nicht von einem Tag auf den anderen davon freimachen. Aber es lohnt sich. Denn klar, Wettbewerb kann Spaß machen – wer schafft mehr Push-Ups, wer gewinnt das Tennis-Spiel? –, er tut ab einem bestimmten Level aber gewiss nicht jedem gut. Wer will sich schon ständig im Schwanzvergleich üben, Überstunden im Büro kloppen, um dem Chef zu gefallen und auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, auf Kosten der Freizeit, der Familie und dem eigenen Wohlbefinden? Klar, Arbeit ist nicht nur finanziell wichtig, sondern auch als Ausgleich, als Sinnstiftung und, im Kapitalismus, als Bestätigung. Wohl dem, der einen Job hat, der ihm nicht nur Geld, sondern auch Spaß oder gar Erfüllung bringt. Und auch der Liebe kann diese Erkenntnis helfen: In seinem Buch „Lebenskompliz♡innen“ führt Autor Nils Pickert – der, der vor Jahren viral ging, weil er auf einem Foto seinen Sohn, der gerne Kleider trug, im Rock begleitete – aus, dass das Bild der romantischen Liebe in den Medien noch immer von Ungleichheit ausgehe, das Konzept der Kompliz*innenschaft aber erst Romantik frei von Klischees und auf Augenhöhe zulasse.

Kritik wegen mutmaßlicher Kollektivschuld

Es gibt auch Kritik am Begriff der toxischen Männlichkeit. Mal abgesehen davon, dass er sich nicht eindeutig definieren lässt und es nie endgültig als Fachterminus in die Wissenschaft geschafft hat, wird oft thematisiert, dass er Männer unter Generalverdacht stelle. Boris von Heesen etwa vermeidet ihn in seinem Buch. Er erklärt: „Kein Mann ist toxisch. Aber jeder Mann verhält sich aufgrund seiner männlichen Sozialisation in dieser Gesellschaft ab und an so, dass er sich selbst und/oder anderen schadet.“ Es gebe aber auch gesellschaftliche Strömungen und Organisationen, die für ein Konstrukt von Männlichkeit kämpfen, in der Männer Frauen dominieren und abwerten. Solche Bewegungen, „die für ein System einstehen, dass sich durch toxisch männliche Verhaltensweisen konstituiert“, benennt er bewusst als Systeme einer toxischen Männlichkeit.

Der Brite Eric Anderson, Soziologie-Professor von der University of Winchester, möchte ihn deshalb am liebsten abschaffen. „Der Begriff dient vor allem als Pejorativum gegen Männer, er geißelt Männer im Allgemeinen“, sagt er. „Er ist keine Theorie, wird nicht durch wissenschaftliche Literatur gestützt und wird willkürlich verwendet. Die Idee der toxischen Männlichkeit charakterisiert ungerechterweise alle Männer als gleich: Wenn man ‚toxische Männlichkeit‘ sagt, impliziert das, dass auch nur ein kleines bisschen Männlichkeit giftig ist; wenn man also das Wort Männlichkeit überhaupt verwendet, suggeriert das, dass alle Männer toxisch sind.“ Er sei zwar nicht dagegen, Männer zu kritisieren, als Kollektiv verursachten sie eine Menge sozialen Schaden und ein großes Maß an sozialem Wohlergehen. „Aber vorschnelle Urteile darüber, dass Männer toxisch sind, verkennen die Komplexität von Männlichkeit. Die Verwendung des Begriffs lässt Raffinesse vermissen, denn sie verkennt, dass einige der gleichen Verhaltensweisen, die Männer in höherem Maße als Frauen an den Tag legen (Risikobereitschaft, Gewaltbereitschaft), in einigen Bereichen (z. B. bei Soldaten) heroisiert und in anderen (kriminelle Aktivitäten) zu Recht abgewertet werden. Es sind dieselben Eigenschaften, sie werden nur in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Wenn wir die Handlungen von Männern in einem Bereich als toxische Männlichkeit bezeichnen, wertet das dieses Verhalten in allen Bereichen ab.“ 

Mit Andersons und von Heesens Einwänden im Hinterkopf sehen auch andere den Begriff als problematisch an. Männer würden abgeschreckt davon, man erreiche mit seiner Verwendung also das Gegenteil von dem, was eigentlich erreicht werden wolle. Auf Twitter kursiert dazu der Hashtag #notallmen, über den SZ-Autor Julian Dörr in seiner Kolumne „Mansplaining“ befindet: „Richtig ist er, weil selbstverständlich niemand aus einem Einzelfall schließen möchte, dass ausnahmslos alle Männer ganz bewusst Frauenfeinde sind, die sich als tickende Gewaltbomben durch die Straßen schleppen. Und falsch, weil all diese sogenannten Einzelfälle eben doch Teil einer gesellschaftlichen Struktur sind, in der Frauen ein völlig anderes Leben führen als Männer. Weil diese Strukturen jeden Mann etwas angehen, der für Grundrechte und Gerechtigkeit einstehen will, muss es am Ende also doch heißen: Yes, all men.“ Ähnlich argumentiert auch der Pädagoge und Fachberater Tippe. Auf die Frage unseres Kollegen Birk Grüling, ob es auch toxische Weiblichkeit gebe, antwortet er: „Es gibt natürlich auch Frauen, die eine Ellbogen-Mentalität an den Tag legen oder auch männlichen Sexismus verteidigen. Eine wichtige Erklärung dafür ist eine Art von gesellschaftlicher Überlebensstrategie. Toxische Männlichkeit und Weiblichkeit kann man aber nicht gleichsetzen – das ist als würde in unserer Gesellschaft von einem Rassismus gegenüber „Weiß-Gelesenen“ Menschen sprechen. Auch das ist völliger Quatsch und verschweigt die eigentlichen Machtverhältnisse. Denn die Betroffenen in einer männlich-dominierten Gesellschaft sind Mädchen und Frauen.“

Der Autor dieses Textes befindet: Es braucht Provokation, um Menschen aus der Reserve zu locken. Niemand – okay, nur wenige – will mit der Verwendung des Begriffs Männer pauschal angreifen. It’s the structure, stupid! Es geht vielmehr darum, eigenes Verhalten und interne und externe Erwartungshaltungen zu hinterfragen. Weil Einsicht wirklich der erste Schritt zur Besserung ist. Denn so wie wir alle Stereotypen und Rassismus im Kopf haben, auch wenn wir mit unserem arabischen Kumpel Fussball spielen, so sind wir Männer eben auch männlich erzogen werden, mit allem, was das so mit sich bringt. Niemand kann etwas für sein biologisches Geschlecht, aber für den Umgang damit. Versuchen wir uns deshalb an einem versöhnlichen Abschluss: Behandelt Frauen einfach so, wie Ihr Euch wünscht, dass andere Eure Mutter, Partnerin, Freundin, Schwester oder Tochter behandeln. Und behandelt Euch selbst so, wie Ihr behandelt werden wollt – und so, dass es Euch aus Euch selbst heraus gut geht. Dann kann eigentlich nicht so viel schief gehen – und größere Teile der patriarchalischen Gesellschaft zögen endlich nach.

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