Rammstein und die Musikindustrie: 7 Stellen, bei denen mir als Vater während der „Row Zero“-Lektüre besonders übel wurde

„Protect your daughters AND educate your sons“: Selbst wenn sie nichts mit der Musikbranche zu tun haben, sollten gerade Eltern von heute heranwachsenden Kindern Bücher wie „Row Zero“ lesen. Aus folgenden Gründen.

Hab’s gern gelesen, auch wenn es nicht so aussieht oder klingt: „Row Zero“, erschienen am 28. Mai 2024 bei Eichborn.

Als 43-jähriger Mann, Vater, Rockmusikfan sowie als (Pop-)Journalist komme auch ich seit über einem Jahr an einem großen Thema nicht vorbei: Rammstein und ihre „Row Zero“, losgetreten durch einen Tweet der Irin Shelby Lynn. Am 25. Mai 2023 schrieb sie, dass Rammstein-Sänger Till Lindemann während eines Konzerts in Vilnius unter der Bühne mit ihr habe Sex haben wollen. Dafür rekrutiert worden sein soll sie aus der „Row Zero“, einer Reihe vor der ersten Reihe bei Rammstein-Konzerten, in die konzertiert sehr junge Frauen geladen wurden, um danach mindestens Zugang zur Aftershowparty zu erhalten. Ein Rechercheteam von NDR und Süddeutscher Zeitung ging den Behauptungen nach, sprach mit weiteren mutmaßlich Betroffenen und veröffentlichte Anfang Juni seine vorläufigen Ergebnisse, die Lindemann u.a. des Machtmissbrauchs verdächtigen. Der „Spiegel“ legte nach. Für Femtastics.com schrieb ich damals einen Kommentar unter der Headline „5 Mißverständnisse im Fall Till Lindemann, über die wie immer wieder sprechen müssen“.

Ein Jahr später folgte der zweite ganz große Aufschlag: Fast zeitgleich erschienen von den damals hauptverantwortlichen Investigativjournalist*innen Daniel Drepper und Lena Kampf das Buch „Row Zero: Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie“, eine gleichnamige ARD-Doku zu den Vorwürfen und Recherchen sowie ein vierteiliger Podcast. Die SZ legte mit einem weiteren Podcast namens „Feuerzone: Das System Rammstein“ nach. Außerdem empfehle ich aus dem „Deep Doku“-Podcast vom RBB die leider zu kurze Folge über den berüchtigten Medienanwalt Christian Schertz, dessen Kanzlei auch Lindemann vertritt.

Bedeutet „legal“ etwa auch „legitim“?

In allen Formaten wird nicht nur die Frage verhandelt, was Till Lindemann getan oder nicht getan haben soll – sondern die darüber stehende nach dem Unterschied zwischen „legal und legitim“. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen mangels Beweisen – es standen keine unmittelbaren Zeug*innen zur Verfügung, die Anzeigen erfolgten durch „nicht am Tatgeschehen beteiligte Personen“ – gegen Lindemann drei Monate später ein. Gleicht das einem Freispruch, wie viele Fans behaupten? Oder heißt dies lediglich, dass ihm juristisch kein Rechtsbruch nachgewiesen werden konnte? Und da die Recherchen weitergehen und niemand länger weggucken darf, schließen sich weitere Fragen an: Handelt es sich dort um eine sogenannte Verdachtsberichterstattung, wie Lindemanns Verteidiger behaupten? Was wurde aus der Unschuldsvermutung „Im Zweifel für den Angeklagten“? Doch gerade wenn die noch immer gelten soll: Müsste sie dann nicht auch für die mutmaßlichen Opfer gelten, denen nicht geglaubt wird? Wo hört Einvernehmlichkeit auf, wo fängt Machtmissbrauch an? Heißt wirklich nur ein „NEIN“ nein? Journalistin Elena Kuch behandelt einiger dieser Fragen in Folge 4 des Podcasts.

Im Buch „Row Zero“ geht es immer wieder um Rammstein als Klammer, aber eben nicht nur. Vielmehr gelingt es Drepper und Kampf, ein größeres, historisches und gegenwärtiges Bild der Musikindustrie zu zeichnen. Es geht um Groupietum in den 60ern und Grenzüberschreitungen zwischen zum Beispiel Privatem und Beruflichem, um toxische Männlichkeiten, aber auch toxische Strukturen und, auch hier, eben immer wieder um die rhetorische Frage: Nur, weil etwas juristisch nicht belangbar ist – müssen Frauen es dann ertragen und dürfen Männer sich derartiges Verhalten weiterhin rausnehmen? Dabei geht es nicht nur um krasse eindeutige Tabus wie Vergewaltigung, Missbrauch und so weiter, sondern auch um angebliche Grauzonen wie die, Frauen Karrieren nur gegen Gefälligkeiten anzubieten, sie nicht ernst zu nehmen, sie auszubeuten, sich als Chef nicht Geschäftspartnern entgegenzustellen, die mit meinen weiblichen Angestellten scheisse umgehen, um Alkohol und anderen Drogen. Und damit um sexistische und patriarchale Strukturen, die ich in meiner beruflichen „Karriere“ am Rande gewiss auch mal erlebt habe – aber auch viel zu lange nicht wirklich gesehen und verstanden habe. Schließlich war ich als Mann ja nicht negativ davon betroffen! Was mich zumindest ein wenig zum Umdenken und zum Versuch des Verstehens und Aufzeigens brachte, habe ich in meinem Buch „Väter können das auch!“ aufgeschrieben.

Auch auf der re:publica 2024 sprachen Daniel Drepper, Lena Kampf und Elena Kuch über ihre von Rammstein ausgehenden Recherchen

„Don’t protect your daughter, educate your son“

That being said: Ich weiß, dass es – Stichwort Verdachtsberichterstattung und mangelnde Beweise – Investigativjournalist*innen gibt, die sagen: „Row Zero“ ist eine Katastrophe, weil die Art der Herangehensweise unserem Beruf schade. Ich finde: Drepper und Kampf gelingt die Gratwanderung zwischen dem Anspruch, den sie an ihren Job herantragen sollten und der damit einhergehenden Verhandlung gesellschaftlicher Fragen danach, wie wir zusammen leben wollen. Während der Lektüre fragte ich mich immer wieder: Wäre ich ein Promi und würde mir jemand übel mitspielen wollen – würde er oder sie in meiner Vergangenheit oder gar Gegenwart fündig werden? Womit habe ich mich als Mann, vielleicht auch nur im Kleinen, schuldig oder mitschuldig gemacht? Und deswegen, finde ich, sollten Bücher wie dieses nicht nur Medienfuzzis aus der Musikbranche lesen, sondern erstens jeder Mensch, dem ein respektvolles Miteinander wichtig ist und zweitens – deswegen ist dieser Post auf einem Blog gelandet, dessen Gründer ihn einst als Väterblog verstand – jeder Elternteil, dem es wichtig ist, dass sein Kinder zu aufrichtigen, mündigen und respektvollen Mitmenschen heranwachsen. Nicht umsonst kursiert der erzieherische Leitspruch „Don’t protect your daughter, educate your son“ immer dann durchs Internet, wenn #metoo-Schlagzeilen die Runde machen. Über den und darüber, in welchem Alter und wie wer mit Jungs über sexualisierte Gewalt, Übergriffigkeit und das Erkennen von eigenen und fremden Grenzen sprechen sollte, habe ich im vergangenen Jahr, auch um Zuge der Rammstein-Recherchen, einen Text für „Men’s Health DAD“ geschrieben.

Und weil ich auch zehn Jahre lang als Online-Redakteur bei einem großen Musikmagazin arbeitete, hier noch ein Listicle über „Row Zero“, falls Euch meine bisherigen Argumente für die Lektüre nicht sensationshascherisch genug daherkamen.

7 Stellen, bei denen mir während der „Row Zero“-Lektüre besonders übel wurde

  • Aerosmith-Sänger Steven Tyler übernahm Mitte der 70er die Vormundschaft für ein minderjähriges Fangirl. Der Mutter versprach er Wohlergehen und Schulbildung, stattdessen gab es Sex, Drogen, Alkohol und eine Abtreibung.
  • Eine ehemalige Mitarbeiterin schildert, dass der 2006 verstorbene und in der Musikbranche hochverdiente Atlantic-Labelgründer Ahmet Ertegün in Anwesenheit von ihr oder Mitarbeiterinnen regelmäßig masturbiert haben soll, wenn er sich zum Beispiel durch das Wegräumenlassen von Sexspielzeug nicht gerade anderswie degradierte.
  • Das Label Universal Music wiederum bestätigte den Autor*innen, dass 187-Straßenbande-Rapper Gzuz im September 2023 auf einem Firmenevent eine Mitarbeiterin „sexistisch beleidigt und andere beschimpft“ habe – nur Tage davor saß er noch u.a. wegen Körperverletzung im Gefängnis. Some honks will never change. Sie leben ihr Image – und werden von zu vielen Menschen leider noch immer dafür gefeiert.
  • Die sexistischen, perversen und schließlich menschenverachtenden Absichten des R. Kelly – dessen schlussendlich aufgeflogener sektenartiger Kult, für den er minderjährige Fans gefügig machte, einer Art Gehirnwäsche unterzog und einsperrte, ihn in etlichen Urteilen ins Gefängnis brachte – waren im Nachhinein früh erahnbar: Das Cover seines Solodebüts „Play“ zeigt ihn 1993 mit einem Stock, an dem ein Spiegel angebracht ist, mit dem er Frauen unter den Rock gucken kann. Nur eine Jahr danach heiratete, er, das wusste ich schon, als 27-Jähriger die 15-jährige Aaliyah, in dem er ihren Ausweis fälschte.
  • Jede Schilderung von jungen Frauen, wie Till Lindemann angeblich wortlos körperlich wurde, wirkt mindestens verstörend.
  • Die Existenz der „Row Zero“ und eines Castingsystems bestätigte vor laufender Kamera sogar Till Lindemanns Anwalt, Schertz‘ Partner Simon Bergmann. K.O.-Tropfen seien aber niemals verabreicht worden, jegliche sexuelle Interaktion sei einvernehmlich geschehen. Zumal die mutmaßlichen Opfer ja alle volljährig gewesen seien! Rein juristisch mag das korrekt sein. Aber ob ein 18-jähriger weiblicher Fan, also eigentlich schon noch ein Kind, wirklich wie eine erwachsene Person mit ihrem 60-jährigen Idol auf Augenhöhe kommunizieren und notfalls Grenzen setzen und Missbrauch in dem Moment, da er passiert, als solchen erkennen kann? I doubt it, und genau das sagen ja auch viele der weiteren mutmaßlichen Opfer im Nachhinein.
  • Von wegen Volljährigkeit: In Buch und Podcast schildert ein ehemaliger Rammstein-Fan etwa, dass sie Anfang der Nuller Jahre als 17-Jährige unfreiwillig Sex mit Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz, damals Ende 30, in dessen Haus gehabt habe. Lindemann und er seien mit ihr nach einer Autogrammstunde und einem Barbesuch dorthin gefahren. Lorenz sei anfangs ausfällig geworden, als er erfuhr, dass sie, wie anfangs behauptet, doch noch nicht volljährig sei, Lindemann habe nur gelacht. Sie habe eigentlich auf Lindemann gestanden. Der sei irgendwann pennen gegangen. Zu ihr ins Bett im Gästezimmer soll Lorenz sich dann ungefragt dazugelegt haben und es sei zum Sex gekommen. Den habe sie nicht gewollt. Bloß, genau: „Nein“ habe sie damals nicht explizit gesagt.

Zum Abschluss nur am Rande: Was mich wunderte, war, dass in „Row Zero“ der diffuse Fall Feine Sahne Fischfilet mit keinem Satz erwähnt wurde. Vielleicht galt dort ja doch „Im Zweifel für die Angeklagten“, zumal von den anonym auf Instagram laut gewordenen und beileibe nicht so weit wie bei Lindemann gehenden Vorwürfen nicht einer je konkret wurde und entsprechend nie vor Gericht landete. Vielleicht aber auch aus juristischen Gründen: Ein Gericht stufte die Vorwürfe als Verleumdung ein. Jedenfalls, von wegen Cancel Culture: Beide Fälle, die ich in keiner Weise vergleichen möchte, haben den Bands nicht wirklich geschadet. Feine Sahne Fischfilet gingen danach auf große Open-Air-Tour mit den Toten Hosen. Rammstein gehen weiterhin auf Tour, ihre Platten stiegen nach den Vorwürfen wieder in die Charts ein. Im Frühjahr 2024 fuhren sie sogar die zwischenzeitlich deaktivierte überdimensionale Peniskanone wieder auf die Bühnen. War was?

P.S.: Diese Liste sowie weitere Textauszüge werden in anderer Form am 13. September 2024 in der Oktober-Ausgabe des Musikexpress erschienen sein.

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